Trauern braucht Mut
Beim Tod eines Kindes seien Geschwister oft „doppelte Leidtragende“, stellte der Trauerbegleiter Norbert Nitsche zum Auftakt seines Vortrags in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs fest. „Sie verlieren nicht nur ihren Bruder oder ihre Schwester, sondern auch ihre Eltern, die in der eigenen Trauer gefangen sind. Geschwisterkinder sind in dieser Zeit häufig furchtbar vergessen“, so der Autor. Dies könne das Grundvertrauen ins Leben massiv erschüttern und die Biografie nachhaltig prägen. Als vierfacher Vater, dessen kleine Tochter vor 34 Jahren an plötzlichem Kindstod starb, weiß Norbert Nitsche auch aus eigener Erfahrung, dass „Trauerarbeit Schwerstarbeit ist“.
Den Verlust als Realität akzeptieren
Gleich zu Beginn räumte er mit einem weit verbreiteten „Märchen“ auf: „Es ist völliger Quatsch, dass die Zeit alle Wunden heilt.“ Manche Wunden würden nie verheilen, man müsse lernen mit ihnen zu leben. Verabschieden könne man sich überdies getrost von der Annahme, dass Trauern in Phasen verläuft. „Trauern ist ein höchst individueller Prozess. Man spricht heute von Traueraufgaben, die es zu bewältigen gilt.“ Zu diesen zählt, den Verlust als Realität zu begreifen und den Trauerschmerz zu akzeptieren. „Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch, beispielsweise wann Kindersachen weggeräumt werden“, meinte der Experte. „Erwachsene trauern auch anders als Kinder oder Jugendliche, die sich mit Freunden treffen, weggehen, tanzen, um ihre Trauer zu bewältigen.“ Wieder am Alltag teilzuhaben statt sich abzukapseln sei eine weitere Aufgabe, der man sich stellen müsse. Ebenso wie den Toten einen neuen Platz zuzuweisen. „Das verstorbene Kind steht oft zu arg im Vordergrund“, betonte Nitsche.
„Ich hab’s so ziemlich überstanden“
Den Verlust zu akzeptieren erfordere viel Mut – genauso wie darüber zu sprechen. Aber eben das sei vonnöten. „Es braucht mehr Betroffene, die darüber reden und dadurch ermutigen.“ „Ich hab’s überlebt und ich hab’s so ziemlich überstanden“, meinte Nitsche, selbst wenn er auch heute noch Herzklopfen habe, wenn er an die ersten Stunden denke, nachdem er seine damals sechs Monate alte Tochter leblos in ihrem Bettchen gefunden hatte. Der Sonderpädagoge setzte sich nach diesem „traumatisierenden Erlebnis“ stark mit Trauerarbeit auseinander, gründete Trauergruppen und widmete sich in seiner umfassenden Dissertation dem Thema. Den Schmerz sah er auch als „Chance zu wachsen und stärker daraus hervorzugehen“.
Wenn Eltern wie gelähmt sind
Wenn ein Kind aufgrund einer Krankheit verstirbt, könnten Eltern besser mit dem Tod ihres Kindes umgehen. „Schwieriger ist dies nach einem Unfall oder plötzlichem Kindstod.“ Verheerend könnten sich Bewertungen von Außenstehenden auswirken, wie „Warum hast du denn nicht besser aufgepasst“ beispielsweise. Hilfreich hingegen seien Selbsthilfegruppen, Gespräche mit anderen Betroffenen und Therapien, wobei der richtige Zeitpunkt dafür sehr unterschiedlich sei. Vor allem aber helfe es, sich mit seinen anderen Kindern auseinanderzusetzen. Denn für die Kinder sei der Tod eines Geschwisters körperlich und psychisch überaus belastend. „Die Kinder brauchen in dieser schweren Zeit Eltern, die für sie da sind. „Leider sind verwaiste Mütter und Väter häufig über viele Jahre wie gelähmt“, erklärte Nitsche.
Gut gemeint, aber wenig tröstend
Werden Kinder mit ihrer Trauer alleingelassen, führe das zu Vereinsamung und Verunsicherung. Alarmsignale seien schulische Leistungseinbrüche, Schlafprobleme, Einnässen, Weinkrämpfe, Wutanfälle, Kopf- und Bauchschmerzen. Was den Umgang mit Trauer und Tod an den Schulen anbelangt, zeichnete Nitsche ein divergentes Bild. „Es gibt sehr positive Beispiele, wie Schulen auf ein solches Unglück reagieren – mit Ritualen, Bildern, Gesprächen mit den Kindern und vielem mehr. Aber leider sind Schulen und Lehrpersonen häufig sehr hilflos in der Begleitung der Kinder.“ Den gegenteiligen als „gut gemeinten“ Effekt würden gleichermaßen „Trostwörter, die nicht trösten“ erzielen. „Ich würde an so einem Schicksal zerbrechen“ nannte Nitsche als Beispielsatz, der es Betroffenen noch schwerer mache. Überhaupt seien manchmal Taten zielführender als Worte. „Einen Kuchen backen zum Beispiel, der Familie etwas Gutes zu essen kaufen, die Kinder zu einem Eis einladen, etwas Schönes, Normales mit ihnen machen“, lautet der Ratschlag des Fachmanns.
Vertrauen in die Welt festigen
Nitsche plädierte zudem dazu, möglichst viele Dinge selbst in die Hand zu nehmen. „Die Trauerfeier organisieren zum Beispiel, die Blumen aussuchen oder die Deko gestalten. Ich würde sogar dazu raten, dass Eltern selber das Grab ausheben. Und die Kinder miteinbeziehen, denn sie sind für Trauer nicht zu klein.“ Die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine sieht Nitsche als „Chance, das Thema in der Schule aufzugreifen, neue Zugänge zu finden und uns damit wachsen zu lassen“. Denn letztlich müssen wir alle mit Abschieden leben lernen. Und trotz allem Schweren nicht aus den Augen verlieren, dass für Kinder Mut, Freude und Lachen im Vordergrund stehen sollten, um ihr Vertrauen in die Welt zu festigen.
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Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Der nächste Vortrag „Schritte in die Welt – Wie traumatisierte Kinder & Jugendliche (wieder) gehen lernen“ findet am 15. Juni 2022 statt. Infos & Anmeldung: a.pfanner@voki.at, T +43 5574 4992-5563
"Focus-Sendung"
Am Samstag, den 30. April 2022, präsentierte Georg Fabjan den Vortrag in einer Focus-Sendung auf ORF Radio Vorarlberg. Beitrag auf ORF Vorarlberg nachhören »
Vorarlberg LIVE mit Dr. Norbert Nitsche
Dr. Norbert Nitsche im Gespräch mit Marc Springer in „Vorarlberg LIVE“: