Echtes Mitgefühl für Kinder aus „familiären Kriegsgebieten“
Reihe „Wertvolle Kinder“: Traumatisierte Kinder und Jugendliche brauchen „ein Naturschutzgebiet für verletzte Seelen“.
Das konstatiert Dr. Lutz-Ulrich Besser im Vortrag „Traumapädagogik und Traumatherapie heute“, dem zweiten Teil der aktuellen Bildungsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs. Und führt weiter aus: „Sie brauchen einen sicheren, äußeren Ort, einen gewaltfreien Lebensraum.“ Dabei seien insbesondere Anzahl und Dauer von sicherheitsgebenden Beziehungserfahrungen die Basis für eine nachträgliche, nur „in kleinen, sehr mühsamen Schritten" möglichen Heilung von "verletzten Seelen und irritierten Gehirnen“.
Traumatische Erlebnisse in der Kindheit würden sich vielfältig auswirken und sich in facettenreichen Symptomen zeigen, die das Umfeld oft vor große Herausforderungen stellen: So zeigten Kinder aus sogenannten "familiären Kriegsgebieten", also aus Familien, in denen häusliche Gewalt herrscht, ähnliche Symptome wie Soldaten nach dem Vietnamkrieg – von Panik- und Angststörungen über Beziehungsstörungen bis hin zu Depression, Gewalttätigkeit und Wahrnehmungsstörungen.
„Es waren damals meist normale
Reaktionen, die dem Überleben dienten,
die jetzt im eingefrorenen Zustand
das Leben im Frieden, in der Familie
oder in der Wohngruppe stören.“
Die das Gehirn deformierende Kraft der Gewalt
Dabei sei es insbesondere die wiederholte Erfahrung von Gewalt – in Worten, Bildern und Taten –, die kalt, also gefühl- und mitleidlos, und krank mache, und zu schweren Entwicklungsstörungen führen könne. Denn während Erfahrung das Gehirn strukturiere, deformiere es Gewalt. Schließlich sei das Gehirn plastisch und damit "formbar wie eine Wachstafel". Es entwickle sich durch Erfahrung, Interaktion mit Bindungspersonen und der Außenwelt: „Das, was wir erfahren haben, bildet die Struktur, die dann zur Verfügung steht. Das ist Neuroplastizität. Wie bei einem Menschen, der aus einem Klumpen Ton ein wunderschönes Gebilde formt, wird unser Gehirn durch Erfahrung geformt“, so Dr. Besser.
Auf festgefahrenen Autobahnen
Wiederholungen, ausreichend lange und intensiv genug, führten zu Mustern. Im Guten wie im Schlechten. Aus ursprünglich schmalen Pfaden, die genetisch angelegt sind, würden in Abhängigkeit von Häufigkeit, Dauer und emotionaler Intensität, nach und nach Trampelpfade, Waldwege, Landstraßen und schließlich Autobahnen. Fortan fahre man am liebsten auf festgelegten Bahnen - die sogenannte Macht der Gewohnheit: „Und wenn ich etliche und wiederholte Male […] Gewalterfahrung mache, dann wird im Gehirn ein Muster gebildet. Meine Reaktion und die Reaktion meiner Bezugspersonen, die mich in Angst und Schrecken versetzen, bildet relativ schnell Muster. Einmal ist keinmal. Doppelt hält besser. Aller guten Dinge sind drei. Und dann sitzt das“, betont der Kinder- und Jugendpsychiater.
Entwicklungstraumata und ihre Folgen
Während schon schwere „Mono-Traumata“ Langzeitspuren wie die Posttraumatische Belastungsstörung hervorriefen, hinterließen sequentielle Traumata - also traumatische Erfahrungen durch verschiedene Formen von Gewalt über einen langen Zeitraum wie Vernachlässigung, emotionale, physische und sexuelle Gewalt oder frühe schwere Erkrankungen und Krankenhauserfahrungen - im Gehirn gravierende Spuren in der Art des Denkens, Fühlens, im Verhalten und in der Art der Beziehungsgestaltung. Sie führten zu einer generell verminderten Stressregulation in Körper und Geist mit Auswirkungen auf das Denken, Fühlen, Verhalten, auf die Körperregulation und die Beziehungsfähigkeit.
Treffen sequentielle Traumata auf Kinder, spreche man von Entwicklungstraumata. Das Verheerende: Das Gehirn, das sich gerade erst entwickelt, forme sich infolge neuroplastisch traumabasiert. Deshalb müsse „dieses empfindliche Organ, unser Gehirn, in schützende, fürsorgliche Hände gelegt werden, bildhaft gesprochen, damit es sich gut entwickeln kann“, betont Besser.
„Wenn die Menschen, auf
die wir uns verlassen haben,
um getröstet und beruhigt
zu werden, zu einer Bedrohung
geworden sind, dann verbindet
sich bei Kindern das Bedürfnis nach
Bindung mit Angst statt mit Liebe.“
Beschädigtes Urvertrauen wiederaufbauen
Bindungsorientierte, traumazentrierte Pädagogik und Fachberatung zu realisieren, sei folglich viel mehr als Kinder nur gut zu betreuen. Auch, weil beschädigtes Urvertrauen nur mühsam wiederaufgebaut werden könne. Wie? Durch neue sichere Bindungserfahrungen – dem emotional inneren Band zu einem anderen, feinfühligen Menschen. Ein Band, um sich bei einem anderen Menschen aufgehoben, sicher und geborgen zu fühlen. Ein Band, das keine Knoten vertrage. Doch schon wenn der Geduldsfaden mit einem schwierigen Kind reiße, sei diese Bindung weg.
Was es brauche, sei echtes Mitgefühl, also Feinfühligkeit, und damit die „Fähigkeit, [...] in seine/ ihre Schuhe zu schlüpfen und zu verstehen, dass der Grund dafür, dass jemand sich anders verhält als wir es erwarten, manchmal einfach der ist, dass er etwas ,Altes' - Verletzungen, Traumata - auf dem Herzen hat.“ Zuzuhören und hinzuhören laute die Devise.
Traumapädagogik und das Konzept des „guten Grundes“
Echtes Mitgefühl und das Konzept des „guten Grundes“: Dafür stehe die verstehens- und bindungsorientierte Traumapädagogik metaphorisch. Denn, dass sich Kinder, Jugendliche oder auch Erwachsene schwierig verhalten, dafür gebe es immer einen guten Grund. Es gelte, diesen Grund zu enträtseln, zu verstehen.
Bindungsorientierten Pädagogik benötige folglich insbesondere eine Haltung: Wertfreiheit. Denn: Bewerten schaffe Distanz, während das Verstehen oder der Versuch zu verstehen, Nähe herstelle.
Deshalb müsse es die oberste, wenn auch schwierigste Aufgabe sein, „Kinder so gut wir können, vor allen Formen von Gewalt zu schützen“.
„Kinder und Jugendliche
brauchen aufrechte, klare
und mutige Erwachsene, die
bezogen und liebevoll Halt
geben, indem sie sie verstehen,
begleiten, wertschätzen,
unterstützen und schützen.
Und da, wo es nötig ist,
auch angemessen begrenzen.“
Dr. Lutz-Ulrich Besser ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Gründer und Leiter des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachen zptn, Isernhagen
>>> Der ganze Vortrag zum Nachhören <<<
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird vom Land Vorarlberg unterstützt. Der nächste Vortrag findet am 26. Januar 2022 zum Thema "Wir erleben anders - Autismus und das Phänomen des Pseudoautismus" statt.
Autorin: Stephanie Jiménez