Zweite Eltern, zweite Chance
Manche Paare haben bereits Kinder, sie stehen gut und sicher im Leben und fühlen sich bereit, ein weiteres Kind zu beheimaten. Andere Paare wiederum können keine eigenen Kinder bekommen und setzen sich mit alternativen Möglichkeiten auseinander, Familie zu leben. Mittlerweile treffen Paare auch ganz bewusst die Entscheidung, keine eigenen Kinder zu bekommen – und nehmen ein Kind auf, das zweite Eltern braucht. Überlegt sich ein Paar oder eine Einzelperson, ein Pflegekind aufzunehmen, muss die Bereitschaft da sein, sich auf einen längeren Prozess einzulassen. Pflegeeltern werden vom Pflegekinderdienst sorgsam ausgewählt und auf ihre Aufgabe vorbereitet. Mehrere Hausbesuche ermöglichen ein Kennenlernen und die Überprüfung auf Eignung für diese besondere Aufgabe. Nach mehreren ausführlichen Gesprächen werden sie in speziellen, auf das Thema Pflegschaft abgestimmten Workshops vorbereitet.
Damit Kinder wieder vertrauen lernen
Potenzielle Pflegeeltern müssen Offenheit, Toleranz und Standfestigkeit mitbringen. Und sie müssen Zeit investieren, denn eine Pflegschaft kann nicht von heute auf morgen gestartet werden. Pflegevater oder Pflegemutter sind für Pflegekinder stabile, verlässliche und liebevolle Bindungspersonen. Möchte man ein Pflegekind aufnehmen, ist es zudem wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass man ein Kind aufnimmt, das bereits Eltern hat. Die leiblichen Eltern sollen weiterhin im Rahmen von Besuchskontakten einen Platz im Leben des Kindes haben. Pflegekinder haben oft schon in früher Kindheit Vernachlässigung, Verluste, Gewalt und die Trennung von ihren Eltern erlebt. Sie haben auch gelernt, gegenüber Erwachsenen misstrauisch zu sein. Um wieder Vertrauen zu fassen, brauchen sie zuverlässige, liebevolle und zugewandte Pflegeeltern. Sicherheit erlangen Pflegekinder auch durch eine vorhersehbare Tagesstruktur, Rituale und viele Wiederholungen.
„Wichtig ist immer, sich darüber
im Klaren zu sein, dass man
einem Kind ein neues Zuhause
gibt, das bereits Eltern hat.“
CLAUDIA HINTEREGGER-THOMA
Ein Pflegekind läuft nicht einfach mit
Man darf also nicht glauben, dass ein Pflegekind im Familienalltag einfach „mitläuft“. Je sicherer es sich fühlt, desto eher wird das Kind den Rucksack mit seinen ganz eigenen Erfahrungen auspacken. Manche Kinder brauchen besondere Nähe und Aufmerksamkeit, andere fordern ihre Pflegeeltern heraus und testen ihren Platz in der Familie. Damit eine Pflegefamilie all dies gut meistern kann, braucht sie ein stabiles soziales Umfeld. Zudem werden sie vom Pflegekinderdienst des Vorarlberger Kinderdorfs begleitet.
Warten, bis es losgeht
Alle Pflegeeltern erzählen, dass bei der Neubegründung einer Pflegefamilie die Gespräche und Vorbereitungskurse für sie von großer Wichtigkeit waren. Hat man all dies abgeschlossen, heißt es, darauf zu warten, bis es tatsächlich losgeht. Denn nicht jedes Kind passt in jede Pflegefamilie. Manchmal warten Eltern nur wenige Wochen, manchmal Monate oder auch über ein Jahr auf das „geeignete“ Pflegekind. Wenn es dann soweit ist, müssen Pflegeeltern allerdings schnell parat sein. Denn anders als bei einem leiblichen Kind gibt es keine neunmonatige Vorbereitungszeit. Deshalb wird die Vermittlung eines Pflegekindes in eine Pflegefamilie sorgfältig durch die Mitarbeiter:innen des Pflegekinderdienstes organisiert und begleitet.
Pflegeeltern als sicherer Hafen
Während des Vermittlungsprozesses lernt man auch die Eltern des Pflegekindes kennen, die im Idealfall weiterhin in Form von Besuchen die Beziehung zu ihrem Kind pflegen. Diese Besuche sind etwas ganz Besonderes für ein Pflegekind, denn einerseits ist die Freude groß, die Eltern wiederzusehen. Andererseits taucht auch die Trauer darüber auf, nicht mehr bei den Eltern leben zu können. Manche Eltern schaffen es nicht, die Besuchskontakte regelmäßig wahrzunehmen, dann sind die Kinder enttäuscht. Die Aufgabe von Pflegeeltern ist es, das Pflegekind auf Kontakte vorzubereiten, dem Kind beizustehen, seine Gefühle einzuordnen und auch Halt zu bieten, wenn Eltern nicht kommen. Ganz wichtig ist es, dass es Pflegeeltern gelingt, den leiblichen Eltern mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Spüren Pflegekinder nämlich, dass die Pflegeeltern die leiblichen Eltern abwerten, geraten sie in einen Loyalitätskonflikt.
Schutzmantel fürs Leben
Aus ihrer Erfahrung berichten uns Pflegefamilien, dass die Aufnahme eines Pflegekindes Mut, Stehvermögen, Selbstbewusstsein und Offenheit erfordert. Eine pragmatische Grundhaltung, Gelassenheit und die Fähigkeit, nicht alles persönlich zu nehmen, habe ihnen dabei sehr geholfen. Ehemalige Pflegekinder haben uns erzählt, dass sie sich auch im Erwachsenenalter weiterhin mit der Pflegefamilie verbunden fühlen. Die Pflegeeltern bieten ihnen nach wie vor Halt und Unterstützung – wie eben eine ganz normale Familie. Sie haben in ihrer Pflegefamilie einen Schutzmantel fürs Leben bekommen und die Chance, ihren ganz eigenen Weg zu finden.
Claudia Hinteregger-Thoma
Leiterin des Pflegekinderdienstes
Dieser Beitrag ist Teil der gedruckten Herbstausgabe der „Zeitschrift FAMILIE“ des Vorarlberger Familienverbandes. Die gesamte Ausgabe kann online auf der Website des Familienverbandes bestellt werden. Eine kostenlose Leseprobe finden Sie hier.