Harald Geiger: „Unsere Gesellschaft braucht ein Fundament an lebensbejahenden Kindern“
Harald Geiger ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
und Public-Health-Experte. Er gründete ein innovatives
Kinderärztezentrum in Vorarlberg und ist ärztlicher Leiter des
KÄZ in Dornbirn. Beim Kooperationsangebot Netzwerk Familie
vertritt er die Kinder- und Jugendärzt:innen.
Herr Geiger, Sie sind ein Pionier, was die Errichtung von Kinderärztezentren (KÄZ) anbelangt. Warum sind Sie diesen Weg gegangen?
Harald Geiger: Reformen, die im öffentlichen Krankenhaussystem umgesetzt wurden, sind im niedergelassenen Bereich verabsäumt worden. Jüngere Kolleg:innen scheuen die hohen Investitionen und den Zeitaufwand einer Einzelpraxis, die in einem veralteten, unterdotierten Leistungssystem finanziert werden muss. Dies hat zum Anstieg von Wahlarztpraxen geführt, deren Leistungen aber nur für bestimmte Gesellschaftsgruppen finanzierbar sind. Das KÄZ schien ein gangbarer Weg, einem Versorgungskollaps entgegenzuwirken. Es ist in den Augen vieler eines Landes wie Österreich unwürdig, die medizinische Versorgung von Kindern vom Geldbeutel der Eltern abhängig zu machen.
Wie sind die Erfahrungen im KÄZ?
Harald Geiger: Das Neue daran ist, dass sich verschiedene Systempartner zusammengeschlossen haben, um dieses Modell auf den Weg zu bringen. Gerade Kinderärzt:innen verstehen sich ja in erster Linie als Sozialmediziner:innen, die die Nöte der Eltern und Kinder wahrnehmen. Die bisherigen Erfahrungen sind durchwegs positiv, sowohl was die Versorgungsmöglichkeit als auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit anbelangt. Die Motivation der Ärzt:innen ist groß, und es gibt viel Zustimmung und Lob gibt es von Seiten der Eltern und Kinder.
Wie nachhaltig sind die negativen Folgen, wenn Kindern nicht oder zu spät behandelt werden?
Harald Geiger: Die negativen Auswirkungen frühkindlicher Traumata auf das sich entwickelnde Gehirn sind heute sehr gut erforscht. Viele gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter, u. a. Adipositas, onkologische Erkrankungen, verkürzte Lebenszeit, gravierende psychische Probleme und Suchtverhalten, sind dadurch mitverursacht. Auch schulische und berufliche Probleme stehen in kausalem Zusammenhang. Leider können diese Veränderungen im Erbgut – im Speziellen in der Software, die Informationen ausliest – nachgewiesen und damit vererbt werden. Allein diese Tatsache sollte schon Anlass genug sein, alles daran zu setzen, Kinder vor negativen Einflüssen zu bewahren. Das gilt umso mehr, je jünger die Kinder sind. Ursächlich für die Folgen früher traumatischer Erfahrungen sind die hochgefahrenen Stresssysteme, die sich schädlich auf neuronale Prozesse im Gehirn auswirken. Diese Auswirkungen sind nur begrenzt reversibel, d. h. bei entsprechenden Maßnahmen kann es trotzdem gut werden, aber es wird nie so gut, wie es hätte sein können.
„Es gibt wenig Grund zur
Annahme, dass nicht alle Eltern
das Beste für ihre Eltern wollen.
Die Chancen, das umzusetzen,
sind aber sehr ungleich verteilt.“
HARALD GEIGER
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
Was wären in Ihren Augen notwendige Schritte, um eine bestmögliche medizinische Versorgung für alle Kinder unabhängig ihrer Herkunft und mehr Chancengerechtigkeit auch in Sachen Prävention zu gewährleisten?
Harald Geiger: Der Begriff Gesundheit sollte weiter gefasst werden und um die Familiengesundheit erweitert werden. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass nicht alle Eltern das Beste für ihre Eltern wollen. Die Chancen, das umzusetzen, sind aber sehr ungleich verteilt. Menschen, die in gesicherten Verhältnissen leben, können schlicht und einfach besser auf ihre Kinder schauen. In Vorarlberg sehe ich weniger das Problem in der Gesundheitsversorgung an sich, als in der materiellen Absicherung der Familien. Wir haben in Österreich im EU-Vergleich einen hohen Anteil von in Armut lebenden bzw. armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen. Armut ist ein großer Stressfaktor und die schlechtere Gesundheit von Kindern in Armutsverhältnissen ist durch den Mangel an finanziellen Möglichkeiten und fehlender Teilhabe bedingt und nicht umgekehrt. Deshalb braucht es eine Kindergrundsicherung.
„Armut ist ein großer
Stressfaktor. Die schlechtere
Gesundheit von Kindern in
Armutsverhältnissen ist durch
den Mangel an Möglichkeiten
und Teilhabe bedingt - und
nicht umgekehrt.“
HARALD GEIGER
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
Was müsste sich sonst noch ändern?
Harald Geiger: Ich plädiere dafür, die die Aufgabe des Staates, lebensnotwendige Strukturen für die Bevölkerung bereitzustellen – nicht nur auf Kanalisation, Straßen und strukturelle Einrichtungen anzuwenden, sondern auch auf systematisierte Angebote für Familien, die sie in ihrer Aufgabe unterstützen. Unsere künftige Gesellschaft braucht ein Fundament an lebensbejahenden, selbstbewussten Kindern, die sich Aufgaben zutrauen und den Beitrag an die Gesellschaft aufgrund ihrer Erfahrungen als selbstverständlich sehen. Persönlich glaube ich, dass wir endlich die Verschränkung von Gesundheit mit Bildung anerkennen und das derzeitige selektierende Schulsystem auf den Müllhaufen der Pädagogikgeschichte werfen müssen. Es raubt zu vielen Kindern die Chancen und macht darüber hinaus noch krank, nicht nur die Kinder. Mein Wunsch wäre zudem, dass der Widerstand gegen eine Ausweitung des Angebots der Frühen Hilfen auf das sechste Lebensjahr aufgegeben wird, damit die Übergänge in der Kinderbetreuung bzw. Schule mit abgedeckt werden.