Alexandra Wucher: „Wir müssen der Kindergesundheit höchste Priorität geben“
Alexandra Wucher ist Gesundheitspsychologin, Public-Health-Expertin
und Geschäftsführerin des Vorarlberger Kinderdorfs.
Die Fachwelt fordert die stärkere Verzahnung von Gesundheits- und Sozialbereich. Warum ist diese Vernetzung von so großer Bedeutung?
Alexandra Wucher: Die Entwicklungsjahre der frühen Kindheit sind massiv prägend für unsere Gesundheit im Erwachsenenleben. Die neurobiologische Forschung belegt, dass die Fürsorge einer konstanten Bezugsperson das beste „Beruhigungsmittel“ für Kinder ist und maßgeblich das Stressverhalten als Erwachsener beeinflusst. Gesundheitliche Belastungen im Kindesalter werden erst später krankheitswirksam, sie werden abgespeichert und bei seelischer Belastung aktiviert. Auch psychische Erkrankungen, Sucht und selbstschädigendes Verhalten treten häufiger bei Menschen mit kindlicher Traumaerfahrung auf. Das heißt: Wenn Kinder die passende Unterstützung und Förderung in der frühen Kindheit erhalten, wirkt sich das positiv auf ihre kognitive und sozioemotionale Entwicklung aus. Prävention kann nur gelingen, wenn wir die Menschen, die Hilfe benötigen, auch erreichen. Fast 100 Prozent aller Menschen mit Kindern haben Kontakt mit dem Gesundheitssystem. Hier ist das Potenzial hoch, frühzeitig Gefährdungen zu erkennen und niederschwellig weiter zu vermitteln.
Wie ist die Situation in Vorarlberg und welche Maßnahmen wären wichtig?
Alexandra Wucher:Gesundheit ist für alle das wichtigste im Leben. Ich meine dabei die körperliche, geistige und psychische Gesundheit im breiten Kontext. Sie bestimmt unsere Lebensdauer, Lebensgestaltung und Lebensqualität, aber auch die Partizipation und Chancen in der Gesellschaft. Ich glaube, dass es bisher großes Vertrauen in eine gute gesundheitliche Versorgung gab, das jetzt mehr und mehr schwindet. Wir sehen bei den von uns betreuten Familien starke Erschöpfung, Unsicherheit und Zukunftsängste. Ich meine, je knapper Ressourcen werden, umso zielgerichteter sollten sie dort eingesetzt werden, wo sie am nötigsten sind – mit weniger Bürokratie und Gießkanne, mehr Rückgrat und Blick auf die Sache, gegenseitigem Vertrauen und sozialem Miteinander.
„Ich glaube, dass es
bisher großes Vertrauen
in eine gute gesundheitliche
Versorgung gab, das jetzt mehr
und mehr schwindet. Wir sehen
bei den von uns betreuten
Familien starke Erschöpfung,
Unsicherheit und Zukunftsängste.“
ALEXANDRA WUCHER
Ist die derzeitige Entwicklung ein Rückschritt, was die Bemühungen um mehr Chancengerechtigkeit von Kindern anbelangt bzw. geht die Schere zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern, Arm und Reich, noch mehr auseinander?
Alexandra Wucher: Chancengerechtigkeit ist eine generelle Herausforderung und in Krisen spitzt sich das noch zu. Ungleiche Gesundheitschancen beruhen auf unterschiedlichen Ressourcen und Belastungen. Gesundheit sollte kein Luxus sein. Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit ist schon lange gut erforscht. In Österreich wächst mehr als jedes fünfte Kind armutsgefährdet auf. Armut betrifft alle Lebensbereiche und viele Probleme verstärken sich, angefangen von generellen Entwicklungsverzögerungen, Sprachauffälligkeiten, psychomotorischen Defiziten, Adipositas bis zu emotionalen und sozialen Auffälligkeiten.
Wo liegen Chancen bzw. welche strukturellen Änderungen sind erforderlich?
Alexandra Wucher: Ein Public Health-Prinzip lautet „Health in all policies“. Gesundheit wird nicht ausschließlich im Gesundheitsressort gestaltet. Eine gesundheitsorientierte Gesamtpolitik beruht auf einer sektorenübergreifenden Zusammenarbeit. Im Prinzip sollte bei jeder Entscheidung – egal in welchem Bereich - überlegt werden, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit der Bevölkerung insbesondere der Kinder und deren Zukunft hat. Vor allem bräuchte es vermehrt vernetzte präventive Ansätze, die so früh wie möglich ansetzen, aber auch die Schaffung gesunder Lebensräume. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das zu organisieren und hier Verantwortung zu übernehmen – und kann nicht auf einzelne Systeme bzw. Individuen abgewälzt werden.
Welche raschen Schritte braucht es und was wäre à la longue wichtig?
Alexandra Wucher: Ganz oben steht: Der Kinder- und Jugendgesundheit einen priorisierten Stellenwert zu geben. Das heißt, das Gesundheitsziel 6 im Regierungspapier umzusetzen: „Gesundes Aufwachsen für alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich gestalten und unterstützen“, vor allem den präventiven Bereich auszubauen.
Welche konkreten Auswirkungen hat die derzeitige Situation für Kinder aus Familien, die in prekären Situationen leben oder von Armut bedroht sind?
Alexandra Wucher: In einer Umfrage* (der Bundesländer W, S, V, 2021) der Ärztekammer und Volkshilfe haben 85% der befragten Ärzt:innen beobachtet, dass armutsbetroffene Kinder und Jugendliche häufiger krank sind. Als negative Auswirkungen werden z. B. Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen und motorischen Bereich sowie Probleme der Zahngesundheit angegeben. Zahlreiche Studien belegen auch, dass diese gesundheitlichen Benachteiligungen in der Kindheit das ganze Leben prägen.
Was bedeutet das für uns als Gesellschaft?
Alexandra Wucher: Die Ungleichheit in unserer Gesellschaft wächst. Laut Armutsforscher Martin Schenk führt Krankheit in die Armut, aber auch Armut in die Krankheit. Leben am Limit macht Stress, schwächt die Abwehrkräfte und das Immunsystem, leben am Limit macht verletzlich und krank. Allerdings sagt er auch, dass die Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen und in den Bewältigungsressourcen schwerer wiegen als die Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung und zudem eng mit den Unterschieden in der Gesundheitskompetenz verwoben sind. Das heißt, zu einer guten Gesundheitsversorgung gehört auch, an gesundheitsförderlichen Verhältnissen anzusetzen, um Menschen in ihrem Gesundheitsverhalten zu unterstützen. Eine Politik, die am Gemeinwohl und Gerechtigkeit orientiert ist, würde letztlich wieder der Gesellschaft zugutekommen.
* „Gesundheit darf kein Luxus sein. Über den Zusammenhang von Kinderarmut und Gesundheit – auch im Kontext der
Pandemie“, Volkshilfe 2023