Christine Rinner: „Die Schere zwischen Arm und Reich ist deutlich sichtbar“
Christine Rinner ist Sozialarbeiterin und Frühe-Hilfen-Expertin. Sie
leitete Netzwerk Familie, ein Kooperationsangebot von Vorarlberger
Kinderdorfs. der aks gesundheit und der Vorarlberger Kinder- und
Jugendfachärzte.
Die Kinderliga und viele Expert:innen weisen auf eine dramatische Entwicklung in der kindermedizinischen Versorgung in Österreich hin, die sich bereits seit Jahren abzeichnet. Wie ist die Lage in Vorarlberg?
Christine Rinner: Wir sind immer wieder mit Eltern konfrontiert, die auf der Suche nach einer Kinderärzt:in mehrere Anläufe machen müssen, bis sie einen Termin erhalten. Es gibt ja eine Verpflichtung, dass Neugeborene von einem Kinderarzt angenommen werden müssen, aber auch in dieser Situation ist es schwierig, eine Ordination in der Nähe zu finden. In akuten gesundheitlichen Krisen werden die Familien öfters ins Krankenhaus geschickt und dort werden sie „getadelt“, warum sie nicht zum Arzt gegangen sind – manchmal werden sie im Kreis herumgeschickt. Manche Familien gerade im ländlichen Bereich weichen zu den Allgemeinmediziner:innen aus – nur ist es dort auch schwierig, Termine zu erhalten. Familien, die es sich leisten können, suchen Wahlärzt:innen auf. Die auch in vielen anderen Lebensbereichen bestehende Schere zwischen Arm und Reich ist, wird hier deutlich sichtbar.
„Die auch in vielen
anderen Lebensbereichen
bestehende Schere zwischen
Arm und Reich wird hier
deutlich sichtbar.“
CHRISTINE RINNER
Wie wirkt sich diese Entwicklung auf betreute Familien aus?
Christine Rinner: Gerade Familien, die wenig Ressourcen haben, sind in der Suche nach einer guten fachärztlichen Versorgung oft überfordert und benachteiligt. Es braucht viele telefonische Anläufe, manche Praxen kommunizieren nur per Mail – gerade bei mangelnden Sprachkenntnissen brauchen die Familien Unterstützung, damit die Kinder medizinisch versorgt werden. Ärzt:innen haben volle Wartezimmer, stehen unter Stress und haben keine Zeit. Immer mehr Familien fühlen sich alleine gelassen und nicht ernst genommen. Gerade Eltern mit Neugeborenen brauchen manchmal vor allem Sicherheit und Verständnis. Dieses Bedürfnis kann in der kinderärztlichen Praxis kaum mehr abgedeckt werden. Durch lange Wartezeiten müssen Kinder länger leiden. Dies betrifft auch notwendige Therapien, da immer mehr Eltern nicht in der Lage sind, private Angebote für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen.
„Ärzt:innen haben volle
Wartezimmer, stehen aufgrund
des großen Andrangs unter
Stress und haben keine Zeit.
Die Familien fühlen sich
alleine gelassen und
nicht ernst genommen.“
CHRISTINE RINNER
Ziel von Netzwerk Familie ist es ja, eine Brücke zwischen Gesundheits- und Sozialbereich zu bauen. Gelingt dieser Brückenbau?
Christine Rinner: In der Pädiatrie ist ein anderes Verständnis von Krankheit/Gesundheit im Sinne von „health in all policies“ nötig. In jeder Praxis sollte der psychosoziale Aspekt gesehen und beantwortet werden können. Da die Ärzt:innen so unter Stress stehen, ist das aktuell schwer oder gar nicht möglich. Gefragt sind strukturelle Veränderungen: weniger Zugangshürden, mehr psychosoziale Abklärung, Beratung und Niederschwelligkeit. Hier ist das KÄZ Dornbirn ein gutes Beispiel, das zumindest ein kleines psychosoziales Angebot leistet.
Bei den Frühen Hilfen geht es darum, Familien in prekären Situationen möglichst früh zu erreichen. Führt der Mangel bzw. Rückgang an Kassenärzten dazu, dass eben diese Intention unterlaufen wird?
Christine Rinner: Ein wichtiger Zugang zu den Frühen Hilfen ist der medizinische Bereich und damit auch die Pädiater:innen. Spätestens bei der ersten Mutter-Kind-Pass-Untersuchung haben fast 100 Prozent der Zielgruppe Kontakt mit einer Kinder:ärztin. Aktuell werden Familien in prekären Situationen oft nicht erkannt und daher auch nicht weitervermittelt. Das führt dazu, dass die Belastungen der Familien erst viel später, z. B. in der Kinderbetreuung, gesehen werden. Dies kann für die Entwicklung der Kinder gravierende Folgen haben, weil Zeitfenster, in denen Entwicklungsschritte gemacht werden, verpasst werden. Laut dem Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckmann ist der „Return on Investment“ für gesundheitsförderliche Maßnahmen in der frühen Kindheit am höchsten, nämlich 1:8. Das heißt, pro investiertem Euro kommen etwa acht Euro zurück. Kosten-Nutzen-Analysen zeigen, dass jeder in die frühe Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern investierte Euro öffentliche Ausgaben, unter anderem für Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und medizinische Leistungen, reduziert.