"Wertvolle Kinder"-Vortrag
Das laute Leise: Depressionen bei Kindern und Jugendlichen
Anja ist 14, Einzelkind, besucht die Realschule. Ihre Eltern sind verheiratet. Mit zwölf zeigt Anja erstmals selbstverletzendes Verhalten. Sie ritzt sich an Armen, Beinen, Bauch. „Ich bin doof wie Scheiße“, sagt das Mädchen über sich selbst. Sie hält sich für hässlich, fühlt sich wertlos und verkriecht sich am liebsten den ganzen Tag im Bett. Anja zählt zu den 450.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die an einer Depression leiden. Etwa 50.000 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre sind laut dem Kinderpsychologen und Depressionsforscher Stefan Lüttke in Österreich betroffen. Noch viel zu oft würde die Krankheit bei den jüngsten Betroffenen übersehen. Jede/r Fünfte hätte im Laufe seines Lebens eine Depression, ein Großteil bereits im Jugendalter.
„Als ob ich nicht mehr leben könnte“
Wie lässt sich eine depressive Erkrankung im Kinder- und Jugendalter aber überhaupt erkennen? Nach Stefan Lüttke kann eine Depression bei Heranwachsenden an drei Haupt- und sechs Nebensymptomen festgemacht werden. Ein wesentliches Kernsymptom ist eine depressive Stimmung, Niedergeschlagenheit und Traurigkeit. „Ich fühl mich einfach leer, so als ob ich nicht mehr leben könnte“, erklärt zum Beispiel die 15-jährige Laura, die oft weinen muss und nicht weiß warum. Der Verlust von Interessen, Hobbys und Freundschaften sowie außergewöhnliche Müdigkeit und Energielosigkeit sind weitere Hauptmerkmale.
Extreme Selbstzweifel
Zu den Nebensymptomen zählen mangelndes Selbstbewusstsein und ein Gefühl der Wertlosigkeit. „Die Kinder bezeichnen sich als Idiot, Versager, Dummkopf, haben einen ausgeprägten negativen Denkstil“, erzählt der Therapeut aus seiner Praxis. „Sie sind von unbegründeten Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen geplagt.“ Unentschlossenheit ist ein weiteres Nebensymptom. „Es fehlt die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, banalste Dinge werden zum Problem, zum Beispiel, was man essen soll.“ Drittes Nebenkennzeichen ist eine große Unruhe und ein gehemmtes Auftreten, z. B. eine verlangsamte Sprache. Weitere Symptome: Schlafstörungen, Appetitverlust oder gesteigerter Appetit verbunden mit großer Gewichtsab- oder -zunahme, Suizidgedanken und Lebensmüdigkeit.
Was ist schon normal?
Zumindest zwei Haupt- und zwei Nebensymptome müssten zwei Wochen lang am Stück gegeben sein, damit von einer Depression gesprochen werden kann. All diese Symptome sind je nach Alter unterschiedlich ausgeprägt. Kleine Kinder bis zu drei Jahren, die von einer Depression betroffen sind, wirken traurig, ihre Mimik ist starr und ausdruckslos, sie zeigen u. a. wenig Kreativität und Spiellust. Sehr ähnlich sind die Symptome bei depressiven Kindern im Vorschulalter. Insbesondere die mangelnde Fähigkeit, sich zu freuen, und das geringe Interesse an Spiel und Freunden fallen ins Auge. Im Schulalter kommen Selbstzweifel dazu, das Gefühl, nicht geliebt zu sein, Kopfschmerzen (bei älteren Kindern), Bauchschmerzen (bei den Jüngeren), ebenso Schulleistungsstörungen und Suizidgedanken.
„Niemand interessiert sich für mich“
Vermindertes Selbstvertrauen, Apathie, Ängstlichkeit, psychosomatische Erkrankungen, extremer sozialer Rückzug und Aufgabe von Hobbys sowie Reizbarkeit kennzeichnen Depressionen in der Pubertät. „Ich fänd’s nicht schlimm, wenn ich nicht mehr da wäre“, zitierte Stefan Lüttke während des Vortrags noch einmal Laura. „Es interessiert sich sowieso niemand für mich.“ Die eigene Wahrnehmung der Realität trifft häufig auf Unverständnis der Eltern. „Endlich wieder normal“ soll das Kind sein, „nicht immer so schlecht drauf“. Auch Scham und die Angst, als „Psycho“ stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden, verhindert das Sprechen über die Krankheit. „Jugendliche in der Pubertät kommen oft mit sich nicht klar. Sie müssen große Veränderungen in relativ kurzer Zeit bewältigen“, so Lüttke. Pubertätsbedingte Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit seien leicht mit einer Depression zu verwechseln. Hier gelte es, Intensität und Dauer im Blick zu haben.
Keine Panik!
Überhaupt ist genaues Beobachten wichtig, rät der Psychologe Eltern, deren Kind in eine Depression gerutscht ist. „Hinhören und hinschauen statt mit dem Smartphone mit den Kindern kommunizieren“ sei gefragt. Darüber hinaus gelte es, nicht in Aktionismus zu verfallen, Ruhe zu bewahren, über sich selbst nachzudenken, Schuldgefühle zu überwinden und so rasch wie möglich Hilfe zu suchen. Denn zwar könne eine Depression von allein weggehen, „viel besser aber ist es, wenn man etwas tut“, erklärte der Kinderpsychologe den 180 interessierten BesucherInnen im Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde.
Professionelle Hilfe: Je eher desto besser
Sich Expertenhilfe zu holen sei vor allem auch deshalb wichtig, um einen chronischen Verlauf zu verhindern. „Die einzige Chance, nicht immer wieder depressiv zu werden, ist es, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen.“ Erste Anlaufstelle sei der Kinder- oder Hausarzt. Helfen können dann u. a. Psychotherapie (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) ebenso wie Sport, Entspannungstechniken, Kommunikationstraining, Gruppenaktivitäten (auch einfach mal mit den Kindern „rumspinnen“) und vor allem alles, was die Ressourcen und Fähigkeiten sowie Bewältigungsstrategien der Kinder stärkt. Medikamente und ein Klinikaufenthalt als lebensrettender Schutzraum seien manchmal unumgänglich.
Depression betrifft den ganzen Menschen
„Immer betrifft eine Depression die ganze Persönlichkeit“, hielt der Wissenschaftler am University College London und an der Universität Tübingen fest. „Stimmung, Denken, Verhalten und Köper sind beeinträchtigt.“ Noch viel zu wenig erforscht seien die eigentlichen Ursachen für Depressionen bei Kindern und Jugendlichen. Biologische und genetische Aspekte können die Anfälligkeit ebenso erhöhen wie psychosoziale Aspekte. Stress und Belastungen z. B. durch anhaltende familiäre Konflikte, psychische Erkrankungen oder existenzielle Sorgen der Eltern spielen bei der Entstehung mit. Als weitere mögliche Auslöser nannte Stefan Lüttke Mobbing, Trennungen ebenso wie Umzug- oder Schulwechsel. Zurückhaltend äußerte sich der Kinderpsychologe dahingehend, soziale Medien für depressive Störungen bei Kindern verantwortlich zu machen. „Eher geht es um die Möglichkeiten, die Informationsflut zu verarbeiten. Das Gehirn braucht auch mal Pause.“
WhatsApp als Frühwarnsystem
Im fünften Vortrag der aktuellen Staffel „Wertvolle Kinder“ holte das Vorarlberger Kinderdorf ein außerordentlich wichtiges Thema ins Land, das in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird. Stefan Lüttke nutzte die Gelegenheit, um die Pilotstudie „What’s up“ vorzustellen. Gemeinsam mit Informatikern der Universität Würzburg untersucht der Psychologe, ob ein verändertes Kommunikationsverhalten von Kindern und Jugendlichen im Messenger WhatsApp zur Früherkennung von Depressionen genutzt werden kann. Mit Hilfe eines solchen Frühwarnsystems könnten schwere Krankheitsverläufe verhindert werden, ist Lüttke überzeugt: „Bei Kindern, die mit 13 oder 14 Jahren an einer Depression erkranken, sei es sehr wahrscheinlich, dass sie bis ins Erwachsenenalter immer wieder Rückfälle bekommen. Zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen entwickeln sogar eine chronische Depression.“ Wichtig sei es, bereits in der ersten depressiven Phase einzugreifen, da das Risiko für eine erneute Depression nach der dritten Erkrankung bei 90 Prozent liege. Finanziert wird das innovative Projekt über Crowdfunding.
What's up?-Studie. Frühwarnsystem für Kinder und Jugendliche mit Depressionen, Uni Tübingen, Klinische Psychologie und Psychotherapie
What’s up-Studie mitfinanzieren
Buchtipps: Molly und das große Nichts, Das Farbmonster (für kleinere Kinder)
Selbsthilfe für Jugendliche: http://www.youth-life-line.de – Wohin mit meinen Selbstmordgedanken? Jugendliche helfen Jugendlichen, Online-Beratung, Chatten mit Profis, anonym & kostenlos
Anlauf- und Beratungsstellen in Vorarlberg: Jugend – pro mente V
Wenn Jugendliche in einer Krise stecken, Familie und Freunde nicht weiterhelfen können: jugend.unterland@promente-v.at, T 05572/21274
jugend.oberland@promente-v.at, T 05525/63829
Autorin: Christine Flatz-Posch
Bei diesem Vortrag mit im Boot war die Lauteracher Firma Dorn Arbeitsbühnen.
Der nächste Wertvolle-Kinder-Vortrag findet am 12. Juni statt: „Wenn nichts mehr ist wie es war“ von Univ.-Prof. Dr. Barbara Juen.
Die Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird gemeinsam mit dem ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vorwiegend vom Land Vorarlberg/Fachbereich Kinder und Jugend finanziert. Sämtliche Vorträge können in der Vokithek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgehört werden.