Ayleen Mesa: „In meinem Herzen ist ein kleines Loch“
Wie war es für dich als Pflegekind aufzuwachsen? Wie hat dein Umfeld darauf reagiert, dass du ein Pflegekind bist?
Ayleen: Für mich war es gar nicht schlimm, als Pflegekind aufzuwachsen. Natürlich gab es manchmal eine Phase, wo man sich über alles Gedanken gemacht hat. Am schlimmsten war es für mich in der Pubertät – dort ist sowieso alles schwierig. Ich war jemand, der nicht von Anfang an erzählt hat, dass ich ein Pflegekind bin, weil es für mich nicht so wichtig war, darüber zu reden. Ich habe es immer dann erzählt, wenn sich das Gesprächsthema gerade ergeben hat, zum Beispiel wenn jemand erzählt hat, wie er auf die Welt gekommen ist und ich dann gefragt wurde: „Ayleen, wie war es bei dir?“ Dann hab‘ ich gesagt, dass ich ein Pflegekind bin und deshalb solche Sachen nicht weiß. Die Reaktionen waren meistens gleich: „Oh, das tut mir aber leid für dich. Was ist ein Pflegekind?“ Sie haben immer mitfühlend reagiert.
Wie offen ist deine Pflegefamilie damit umgegangen – wussten überhaupt alle, dass du ein Pflegekind bist?
Ayleen: Meine Pflegeeltern sind sehr offen damit umgegangen. Sie sehen mich als ihr eigenes Kind, aber alle wussten, dass ich ihr Pflegekind bin.
Hast oder hattest du Kontakt zu deinen leiblichen Eltern? Wenn ja, wie fühlt es sich an, zwei Elternpaare zu haben? Gab es je Konflikte zwischen ihnen?
Ayleen: Zu meiner leiblichen Mama hatte ich immer wieder mal Kontakt, zu meinem Papa eher weniger. Für mich ist es wirklich schwer zu sagen, wie sich das anfühlt. Für mich ist das „normal“, weil ich es nicht anders kenne. Es gab keine Konflikte zwischen ihnen. Meine Pflegeeltern waren da auch sehr offen. Wenn ich Kontakt zu meinen leiblichen Eltern haben wollte, dann durfte ich das, wann immer ich wollte und sie haben mich dabei unterstützt.
Hast du immer gewusst, warum du bei Pflegeeltern aufwächst? War es wichtig für dich, das zu wissen?
Ayleen: Ich wusste schon immer, dass ich in einer Pflegefamilie aufwachse. Aber den Grund habe ich erst erfahren, als ich mich mit der Frage nach dem „warum“ auseinandergesetzt habe. Ich habe es „erst“ dann erfahren, weil meine Pflegeeltern und die Pflegekinderhilfe gewartet haben, bis ich etwas älter bin. Damit ich mich mit dem Thema beschäftigen und alles wirklich verstehe kann. Es war sehr wichtig für mich, das zu wissen, weil ich so einige Antworten auf wichtige Fragen bekommen habe.
Wie alt warst du damals und kannst du dich noch an diese Zeit erinnern?
Ayleen: Ich war damals zwölf Jahre alt. Und ja, ich erinnere mich daran, wie es für mich war, als ich erfuhr, warum ich ein Pflegekind bin.
Gibt es etwas für dich besonders Wichtiges, das dir deine Pflegeeltern mitgegeben haben?
Ayleen: Meine Pflegeeltern haben mir mit auf den Weg gegeben, dass ich immer so sein soll, wie ich wirklich bin. Dass ich das machen soll, wozu ich Lust habe. In der Zeit, in der es mir nicht so gut ging, haben sie immer gesagt: „Ayleen, alles, was du durchmachen musstest, macht dich zu einem stärkeren Menschen.“ Diese Aussage hat mich auch stärker gemacht. Wenn ich jetzt drüber nachdenke, danke ich ihnen dafür, dass sie sich darum gekümmert haben, dass ich den Weg gehe, den ich mir immer gewünscht habe. Das ist auch ein Grund, weshalb ich meinem Kindheitstraum nachgegangen bin. Ich habe die Krankenpflegeschule begonnen, um diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin zu werden. Im Oktober 2025 werde ich sie abschließen.
Was konntest du von deinen Pflegeeltern lernen? Was von deinen leiblichen Eltern? Oder gab es etwas, wobei du dir dachtest „Nein, so will ich das nie machen“?
Ayleen: Ich beziehe die Antwort ein wenig auf die Antwort von der vorherigen Frage. Von meinen leiblichen Eltern habe ich nichts gelernt. Den Gedanken „so möchte ich das nicht machen“, habe ich nicht.
Hast du dich immer geliebt und akzeptiert gefühlt?
Ayleen: Ich habe mich immer geliebt und akzeptiert gefühlt. In der Pubertät hatte ich oft das Gefühl, dass das leibliche Kind von meinen Pflegeeltern bevorzugt wird – was natürlich nicht der Fall war. Mein Betreuer von der Pflegekinderhilfe hat damals einen Satz gesagt, an den ich heute noch oft denken muss, weil er wirklich Recht hatte. Er hat gesagt: „Ayleen, in deinem Herzen ist ein kleines „Loch“, das niemand reparieren kann.“ Ich fand diesen Satz sehr passend. Ich habe dadurch auch verstanden, warum ich das Gefühl hatte, dass sie ihr leibliches Kind mehr lieben als mich, obwohl es gar nicht stimmte.
Welche Rolle spielten deine Geschwister in der Pflegefamilie für dich – und welche spielen sie heute in deinem Leben?
Ayleen: Meine Pflegeeltern haben einen leiblichen Sohn, der für mich wie ein leiblicher Bruder ist. Wenn man mich fragt, ob ich Geschwister habe, antworte ich immer „Ja, einen Bruder“ und meine dabei ihn. Ich habe meine ganze Kindheit mit ihm verbracht und ich denke gerne daran zurück. Ich habe regelmäßig Kontakt zu ihm, da wir beide noch zu Hause wohnen. Er wird immer eine wichtige Person für mich sein und wird immer mein Bruder bleiben.
Was würdest du sagen, wo ist heute dein Zuhause?
Ayleen: Mein zu Hause ist eindeutig immer noch bei meinen Pflegeeltern.
Kannst du dir vorstellen, eines Tages selbst ein Pflegekind aufzunehmen? Wenn ja, worauf würdest du besonders achten?
Ayleen: Es ist ein großer Wunsch von mir, einmal ein Pflegekind aufzunehmen. Ich werde besonders darauf achten, dass es dem Kind gut geht. Dass das Kind spürt, was wirkliche Liebe ist. Ich werde auch darauf achten, dass, wenn das Kind mit der Situation, ein Pflegekind zu sein, nicht so gut zurechtkommt, ich dem Kind zeige, dass es so viele andere Menschen da draußen gibt, die genau das Gleiche durchmachen wie es selbst. Ich kann dann sagen, dass ich selbst eines war. Und ich glaube, dass ich dem Kind somit sehr gut helfen kann, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, ein Pflegekind zu sein. Denn meistens ist das Problem, dass es im Umfeld keine Pflegekinder gibt und man sich deswegen nicht austauschen kann. So hatte ich immer das Gefühl, ich könnte mit niemandem reden, der das Gleiche durchmacht oder durchgemacht hat. Bei mir war es auf jeden Fall so. Alle um dich herum sagen, „ja, ich verstehe dich“, aber eigentlich können sie das gar nicht so richtig verstehen. Aber alle haben sich immer große Mühe gegeben, zu helfen.
Hast du dir irgendwann einmal gewünscht, bei deinen leiblichen Eltern aufzuwachsen?
Ayleen: Tatsächlich ja. Ich hatte zwar wirklich eine schöne Kindheit – ich konnte draußen frei herumlaufen, ich konnte in einem schönen großen Haus wohnen. Ich hatte wirklich alles, was ein Kind sich wünscht. Alle meine Freunde sind bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen, konnten Dinge erzählen, die ich nicht erzählen konnte, weil es niemand wusste. In solchen Situationen wollte ich oft mitreden, konnte es jedoch nicht. Oft kam auch der Gedanke oder die Frage auf, ob die Liebe, die andere Kinder von ihren leiblichen Eltern bekommen, anders ist. Ich werde nie wissen, wie es ist, von meinen leiblichen Eltern geliebt zu werden oder bei ihnen aufzuwachsen. Heute denke ich, dass ich so viel Liebe von meinen Pflegeeltern bekommen habe, dass diese Frage eigentlich umsonst war.
Bist du heute schon selbstständig? Hast du berufliche und private Ziele, die du erreichen möchtest, Träume, die du verwirklichen willst?
Ayleen: Ich wohne teils bei meinen Pflegeeltern, aber auch teils alleine. Ich wohne im Moment unter der Woche in Feldkirch in einem Wohnheimzimmer von meiner Schule und am Wochenende bin ich zu Hause. Mein berufliches Ziel ist es gerade, meine Abschlussprüfungen von meinem Traumberuf zu schaffen und anschließend auf einer Station, die mir gefällt, als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin zu arbeiten.
Warum ist es dir wichtig, offen mit deiner Geschichte umzugehen und über dein Aufwachsen als Pflegekind zu sprechen?
Ayleen: Ich finde es wichtig, dass man darüber spricht, weil es viele Jugendliche gibt, denen es sicher guttut, wenn sie sich so etwas anhören können und mitbekommen, dass sie nicht die Einzigen sind, denen es so geht. Vielleicht stellen sich einige die gleichen Fragen und sehen so, dass es normal ist, so zu denken. Es ist nicht einfach, ein Pflegekind zu sein. Jeder reagiert anders darauf. Ich finde es auch wichtig, dass Eltern, die ein Pflegekind aufnehmen wollen, Geschichten von erwachsenen Pflegekindern hören. Damit sie auch ein bisschen wissen, wie es den Kindern in einer Pflegefamilie eigentlich geht.
Interview vom 12.03.2025