Neue Wohngruppen in Wolfurt
Denn mit der Umwandlung der letzten vier noch bestehenden Familien des Kinderdorfs Kronhalde in Familiäre Wohngruppen ist das Modell „Kinderdorffamilie“ in Vorarlberg Geschichte. Bis Mitte der 80er Jahre war die stationäre Betreuung von Kindern in Kinderdorffamilien das einzige Angebot des Vorarlberger Kinderdorfs, das die Identität der Einrichtung maßgeblich prägte.
Kulturwandel
Laut Fachbereichsleiter Jürgen Schwendinger geht diese Veränderung mit einem Kulturwandel einher. „Die Wurzel des Kinderdorfs – die Kinderdorffamilie mit ihrer gewachsenen Struktur rund um die Kinderdorfmutter – hat sich zu einem größeren, von mehreren Säulen getragenen System entwickelt“, erklärt Schwendinger. „Die heutigen Familiären Wohngruppen sind gut funktionierende, multiprofessionell besetzte Teams. Die Kinder können sich auf mehrere Bezugspersonen verlassen, die ihnen Beziehung, Zeit und Nähe geben. Wir arbeiten bindungsorientiert, das heißt dass die Mitarbeitenden für die Kinder als reale Personen und nicht nur in ihrer Rolle als Sozialpädagog:innen spürbar sind.“
„Die heutigen Familiären
Wohngruppen sind gut
funktionierende, multi-
professionell besetzte Teams.
Die Kinder können sich auf
mehrere Bezugspersonen
verlassen, die ihnen Beziehung,
Zeit und Nähe geben. “
JÜRGEN SCHWENDINGER
Leiter Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde
Kinder annehmen, wie sie sind
Alle Kinder, die nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben können, brauchen zuallererst Schutz, Halt und eine vertrauensstiftende Umgebung. „Sie bringen einen großen Rucksack an belastenden Erfahrungen mit. Oft sind die Kinder sozial auffällig und verhalten sich nicht erwartungsgemäß. Gerade dann ist es wichtig, sie in ihrer Spur zu verstehen – mit allem, was sie ausmacht – und sie so anzunehmen, wie sie sind.“
Feinfühligkeit, Empathie und ein ehrlich gemeintes Beziehungsangebot seien gefragt, denn für alle Kinder bedeute die Fremdunterbringung eine große Kränkung. „Die Trauer über die Trennung kann sich unterschiedlich äußern, beispielsweise durch Rückzug, Widerstand oder Aggressivität“, weiß Schwendiger. „Es ist wichtig, mit den Kindern immer wieder zu thematisieren, warum sie nicht bei ihren Eltern leben können und welche Erklärungen sie selbst dafür haben. So lernen die Kinder, ihre Gefühle einzuordnen und besser zu verstehen.“
„Intensiver, aber schöner Prozess“
Mit den beiden Familiären Wohngruppen in Wolfurt betritt das Kinderdorf Kronhalde nach identen Angeboten in Lochau und Bregenz bereits bekanntes Terrain. Wohngruppenleiterin Anna Wehinger bezeichnet den Umzug von der Bregenzer Kronhalde ins Zentrum von Wolfurt als „intensiven, aber auch schönen Prozess“. „Wir hatten die Möglichkeit, die Kinder und Jugendlichen lange darauf vorzubereiten. Für uns alle ist die Wohngruppe bereits zum neuen Zuhause geworden und es war ein aufregender, toller Neustart.“
Das Leben mitten in der Gemeinde bringe viel Positives mit sich, freut sich Wehinger. „Die Vernetzung nach außen fällt leicht und es ist schön zu beobachten, wie motiviert die Kinder und Jugendlichen Dorffeste, Märkte und Schulveranstaltungen besuchen.“ Auch mit der Nachbarschaft und ortsansässigen Vereinen steht man in regem Austausch. „Unsere Kinder haben schon Freundschaften knüpfen können. Einige der Freunde wohnen direkt neben uns. Sie kommen uns in der Wohngruppe besuchen und unsere Kinder gehen zu ihnen nach Hause spielen.“
„Unsere Kinder haben
schon Freundschaften
knüpfen können.“
ANNA WEHINGER
Wohngruppenleiterin Wolfurt
Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit sind zentrale Werte, die den kleinen und größeren Bewohner:innen der Wohngruppen vermittelt werden sollen. „Wir hoffen, dass unsere Kinder später auf die positiven Erfahrungen, die sie bei uns machen, zurückgreifen und dadurch auch Widrigkeiten bewältigen können“, betont Jürgen Schwendinger. „Am schönsten ist, wenn die Kinder die Wohngruppe als ihr ‚Daheim‘ bezeichnen. Dann wissen wir, dass sie angekommen sind.“
„Am schönsten ist, wenn
die Kinder die Wohngruppe
als ihr ‚Daheim‘ bezeichnen.“
JÜRGEN SCHWENDINGER
Leiter Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde
Aufbau und Struktur Familiärer Wohngruppen
Kinderdorffamilien – eine kleine Chronologie
Kindern neuen Lebensmut zu geben, war die Intention von Kaplan Hugo Kleinbrod. Er gründete 1951 den Verein „Kinderdorf Vorarlberg“, um von der Gesellschaft vergessenen Kindern ein Zuhause zu geben.
1951: Kauf der „Alten Mühle“ in Au-Rehmen zur ganzjährigen Betreuung von verwaisten, verwahrlosten Kindern.
1954 bis 1965: Entstehung des Kinderdorfs Au-Rehmen mit einem Schulhaus und mehreren Familienhäusern. Von einer Kinderdorfmutter werden bis zu zehn Kinder betreut.
1975: Umzug nach Bregenz, wo das Kinderdorf Kronhalde mit acht Familienhäusern errichtet wurde.
Ende der 80er Jahre: Paradigmenwechsel im Vorarlberger Kinderdorf: Elternarbeit und Pädagogik werden verstärkt, Fachpersonen fördern die betreuten Kinder in ihrer Entwicklung und unterstützen die Kinderdorfmütter.
2011: Eröffnung der ersten Familiären Wohngruppe in Bregenz Kronhalde als Ergänzung zu den bestehenden zehn Kinderdorffamilien.
2014: Gründung einer Familiären Wohngruppe in Hörbranz, die 2018 nach Lochau übersiedelt.
2018 und 2020 werden weitere Wohngruppen ins Leben gerufen.
2023: Bau von zwei Kinderdorfhäusern in Wolfurt. Die noch bestehenden Kinderdorffamilien werden in Familiäre Wohngruppen umgewandelt.
Heute ist das Kinderdorf Kronhalde einer von sieben Fachbereichen des Vorarlberger Kinderdorfs. Über 80 Mitarbeitende in sechs Familiären Wohngruppen bieten 57 Kindern und Jugendlichen lebendige Orte zum Großwerden. Die Zusammenarbeit mit Eltern in äußerst belastenden Lebenssituationen und oft traumatisierten Kindern verlangt von den Mitarbeitenden fundiertes fachliches Know-how sowie die Bereitschaft zur persönlichen und beruflichen Entwicklung.
Bilder: Vorarlberger Kinderdorf / Anna Wehinger; Archiv | Video: Vorarlberger Kinderdorf / Stephanie Jiménez