Zeichen innerer Not und Hilferuf nach außen
„Wertvolle Kinder“: Jugendliche, die „auffällig unauffällig“ sind, brauchen konstruktiven Widerstand.
Im vorletzten Vortrag der neunten Staffel „Wertvolle Kinder“ konzentrierte sich der Zürcher Psychotherapeut und Theologe Norbert Hänsli vor allem auf die leisen Zeichen der Not bei Jugendlichen. Neben jenen Heranwachsenden, die provozieren und aufbegehren, gebe es auch eine steigende Zahl von „auffällig Unauffälligen“. „Ihre Rebellion richtet sich nach innen, ihre Aggression gegen sich selbst.“ Hänsli konstatiert in den vergangenen 20 Jahren eine starke Zunahme des sogenannten „Ritzens“ – die häufigste Form des selbstverletzenden Verhaltens bei Jugendlichen, das etwa im Alter von 13, 14 Jahren beginne und bei Nichtbeachtung einen chronischen Verlauf nehmen könne.
Auf Entspannung folgen Scham und Ekel
Oft ist es laut dem Leiter der Jugendseelsorge Zürich ein Tropfen auf den heißen Stein, der das Fass zum Überlaufen bringe: ein falsches Wort, eine als ungerecht empfundene Benotung, ein Streit. Dahinter liegen unterschiedlichste Gründe – Wut, Schmerz, Selbsthass oder Trauer. „Die Jugendlichen versuchen, auf körperlicher Ebene eine innerseelische Not zu bearbeiten, ihre Gefühle und Beziehungen zu modulieren.“ Die Frage nach dem Warum wird von den Jugendlichen individuell beantwortet: um sich wieder lebendig zu fühlen, um Luft abzulassen, um sich zu spüren, endlich bei sich zu sein. Immer jedoch folgen auf einen „kurzen Moment der Erlösung und Entspannung“ Gefühle der Scham und des Ekels.
„Ich bin in Not, ich brauche Hilfe“
Ritzen ist ein Zeichen innerer Not und zugleich ein Hilferuf nach außen. „Die Jugendlichen verheimlichen ihr suchtartiges Verhalten, vertuschen es, verstecken die Verletzungen durch Kleidung“, so Hänsli. „Auf der anderen Seite wollen sie Aufmerksamkeit und gesehen werden.“ Insgesamt lasse sich keine eindeutige Ursache bestimmen, meist würden viele Faktoren eine Rolle spielen.
Nicht locker lassen
Jugendliche, die sich über einen längeren Zeitraum zurückziehen, sollten auf jeden Fall angesprochen werden. „Sie brauchen Beziehung, einen konstruktiven Widerstand“, appelliert Hänsli an Erziehungsberechtigte und Bezugspersonen. „Es ist wichtig, auch bei Zurückweisung immer wieder in den Dialog zu treten, die Beziehung zu erhalten, nicht locker zu lassen und die Jugendlichen aus ihrem Rückzugsort herauszuholen.“ So früh wie möglich sollte auch psychotherapeutische Hilfe beigezogen werden. Im familiären Leben rät Norbert Hänsli zu einer „Rhythmisierung des Alltags“. „Gemeinsame Mahlzeiten und Erlebnisse sind wichtig, einen Rhythmus finden zwischen Gemeinschaft und Alleinsein, zwischen Ent- und Anspannung, Arbeit und Freizeit und diese Atmosphärenwechsel bewusst gestalten.“
Zunehmende Haltlosigkeit
Generell werde es für Jugendliche immer schwieriger, in einer offenen Welt mit großem biografischem Spielraum die eigene Identität zu finden und sich von den Eltern loszulösen. Die Zunahme an Essstörungen und selbstschädigendem Verhalten sei auch im Zusammenhang mit dem Stellenwert zu sehen, dem Schönheit und äußere Werte zukommen. „Jugendliche definieren sich heute sehr stark über ihr Äußeres. Sie brauchen Selbstbewusstsein und ein anderes Körpergefühl.“ Den Betroffenen sollte mit konstanter Zuwendung begegnet werden, ihr Verhalten weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Was präventiv getan werden könne, so eine abschließende Frage aus dem Publikum. Hänsli: „Wenn die Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Anregung und Beziehung befriedigt sind, stehen die Chancen gut.“
Autorin: Christine Flatz-Posch