„Selbst schauen, wo man bleibt“
„Wertvolle Kinder“: Wenn Leistung nicht mehr zählt – Jugendliche zunehmend unter Druck.
Mathias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien zeichnete zum Abschluss der neunten Staffel der Reihe „Wertvolle Kinder“ im ORF-Publikumsstudio das Bild einer verunsicherten Jugend mit massiven Abstiegsängsten. Eine breite Mittelschicht, deren Motor bislang Fortschrittsglauben und Aufstieg durch Leistung war, kämpfe darum, nicht abzurutschen. Immer größer wird laut Rohrer auch die Unterschicht, zu der 10 Prozent der Jugendlichen zählen. Sie bekommen den Druck am härtesten zu spüren. Aber nicht nur sie: Bereits 90 Prozent der 11- bis 14-jährigen österreichischen Jugendlichen fühlen sich in der Schule sehr stark unter Druck.
Selbstvermarktung statt Leistung
„Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status oder Migrations-Hintergrund fehlt das Rüstzeug, in der Erfolgsgesellschaft zu bestehen“, so Rohrer. „Nicht Leistung ist wichtig, sondern wie man Leistung verkauft.“ Bei der Selbstvermarktung am Arbeitsmarkt helfe Bildung ebenso wie ein guter familiärer Background.
Immer nur reinbuttern
Das Überleben in der Burn-out-Gesellschaft ist nach Rohrer für immer mehr Jugendliche von Existenzängsten geprägt. „Reinbuttern ohne dass was dabei rauskommt“ lasse keine Zeit für Beziehungspflege. Fatal in einer Gesellschaft, in der sich das „wirkliche Leben“ in die Freizeit verschiebt und sich gerade Jugendliche stark über Lifestyle und Szenen definieren. So diene auch die Arbeit hauptsächlich dazu, Geld zu verdienen. „Mehr Freizeit“ steht denn auch auf der Wunschliste der Jugendlichen, für die „50 bis 60 Arbeitsstunden die Woche normal sind“, ganz oben.
Partymachen bis zum Umfallen
Lifestyle-Orientierung, Körper, Kohle: Vor allem für Jugendliche mit niedrigem Bildungsabschluss ist der Job hauptsächlich dazu da, die Freizeit mit möglichst intensiven Erlebnissen zu finanzieren. Jugendliche im höheren Bildungssegment wünschen sich zwar einen Arbeitsplatz, in dem sie sich verwirklichen können und der ihnen gefällt, sind zugleich jedoch skeptisch, einen solchen Beruf auch zu erlangen. Insgesamt würden sogenannte harte Werte wie Geld und Sicherheit an Bedeutung gewinnen, während idealistische Werte wie Selbstverwirklichung und Solidarität zunehmend verschwinden.
Unzählige Optionen, keine Orientierung
In einer Welt der Vielfalt an Lebensentwürfen, kommerziellen Angeboten und Möglichkeiten der Biografiegestaltung wächst für Jugendliche auch der Entscheidungszwang. „Jugendliche wachsen damit auf, dass alles unsicher ist und man sich ständig entscheiden muss“, erklärte Rohrer. Traditionelle Institutionen wie Kirche und Familie verlieren zugunsten individualisierter Werte an Einfluss. Zugleich wächst das Misstrauen in System und Politik.
Leben im Hier und Jetzt
Im Kampf ums Überleben und darum, nicht bald selbst zu den Verlierern zu gehören, kann man sich nicht auf den anderen verlassen. „Es gilt die Ellbogentaktik. Jeder ist seines Glückes Schmied, muss selbst schauen, wo er bleibt“, so Rohrer. Daraus resultiert, dass die Zukunft ausgeblendet wird. Was zähle, sei das Leben im Hier und Jetzt. Und das möglichst lang bei den eigenen Eltern: So leben 75 Prozent der 17- bis 25-Jährigen noch zuhause.
Im Hamsterrad
Ein Großteil der Jugendlichen will in einer Gesellschaft leben, in der der Mensch mehr zählt als das Geld, in der man mitbestimmen kann und in der Leistung etwas bringt. Im Umkehrschluss bedeute dies, dass Jugendliche zunehmend das Gefühl haben, sich im Hamsterrad abzustrampeln – „sie strengen sich an und nichts kommt dabei raus“, interpretierte Rohrer aktuelle Umfragen.
Angesichts eines großen strukturellen und bildungspolitischen Reformbedarfs sei es für Eltern äußerst schwierig, Strategien zur Unterstützung der Heranwachsenden zu entwickeln, meinte Rohrer abschließend. „Was bleibt, ist Kinder in den Dingen zu bestärken, die sie gut können.“
„Ich finde es schöner, den Leuten aus der Seele zu sprechen statt ihnen in die Seele hineinzusprechen.“ (Judith Holofernes)
Infos: mrohrer@jugendkultur.at; Institut für Jugendkulturforschung Wien, www.jugendkultur.at
Autorin: Christine Flatz-Posch