"Wertvolle Kinder"-Vortrag
Was Kinder brauchen, um seelisch und körperlich zu gedeihen
Als Publikumsmagnet erwies sich der renommierte Neurowissenschaftler Joachim Bauer. In der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs sprach er im vollbesetzten ORF-Studio Klartext: Kinder würden von digitalen Produkten überflutet und viel zu früh mit Internet & Co konfrontiert. „Dahinter steckt vielfach die Angst der Eltern, dass Kinder der digitalen Entwicklung hinterherhinken. Schon die Kleinsten werden absorbiert von der mediatisierten Welt“, kritisiert der mehrfach ausgezeichnete Genforscher und Therapeut, der selbst Vater zweier erwachsener Kinder und zweifacher Großvater ist. Bauer zeichnet das Szenario einer „bedrohten Menschlichkeit“, denn Kinder bräuchten für ihr biologisches und psychologisches Gedeihen vor allem liebevolle Beziehungen zu verlässlichen Bezugspersonen. Kinder seien keine „genetischen Selbstläufer“, sondern auf Bindungspersonen angewiesen, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben. „Nur so haben Kinder keine Angst und fühlen sich heimisch in dieser Welt.“
Ein Baby hat noch kein Selbst,
aber es sucht von Geburt an
nach Beziehung.
Kinder keine „genetischen Selbstläufer“
„Kinder müssen gesehen und wahrgenommen werden“, sagte Joachim Bauer. Das sei für die Entwicklung von Intelligenz wichtig, aber auch für Vitalität und Lebensfreude. Das Belohnungs- und Motivationssystem im Gehirn werde durch das uns entgegengebrachte Interesse anderer Menschen aktiviert. „Ein Baby weiß noch nicht, wer es ist, aber es hat ein angeborenes Bedürfnis nach Beziehung“, erklärte der Genforscher. „Körpersprachliche Zeichen und Laute des Babys lösen bei den Bezugspersonen eine Resonanz aus. Das Baby sucht nach Augenkontakt, nach stimmlichen oder mimischen Reaktionen von uns und erlebt so: Da draußen ist ein Du. Durch dieses Hin und Her aus Spiegelung, Imitation und Resonanz entsteht unser Selbst. So werden wir, wer wir sind.“
Es gibt eine Sache, die heute für viele wichtiger
ist als das Kind: das Smartphone.
Heute ist der Schnuller digital
Allzu oft werde dieser elementare Bindungsprozess durch das Handy gestört – gerade bei Säuglingen mit folgenschweren Auswirkungen. „Es gibt eine Sache, die viel wichtiger ist als das Kind: das Smartphone. Säuglinge können sich nicht wehren, sie kommen massiv in Stress, wenn die Eltern nicht ihnen, sondern dem Smartphone ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen.“ Und auch unsere größer werdenden Kleinen bräuchten statt Tablets einen liebevollen Erziehungsdialog mit präsenten feinfühligen Erwachsenen. „Früher tauchte man den Schnuller in Honig und Schnaps, um Kinder ruhig zu stellen. Heute geschieht dies durch den digitalen Schnuller.
Statt Tablets brauchen Kinder
einen liebevollen Erziehungsdialog.
Entkörperlichung der Kindheit
Dabei wachsen Kinder in Beziehungen und im Austausch mit der analogen Welt.“ Kinder, die früh das Smartphone nützen, hätten in vielem schlechtere Karten. „Aufmerksamkeit, Intelligenz, Emotionsregulation, Impulskontrolle, Rechen- und Schreibleistungen – all dies entwickelt sich bei Kindern mit hohem Medienkonsum in der Kindheit schlechter“, führte Bauer aus. Mit der Digitalisierung geht laut Joachim Bauer auch eine „Entkörperlichung der Kindheit“ auf Kosten des Lernens mit Kopf, Herz und Hand einher. Sein Appell: kein Smartphone für den Nachwuchs in der Grundschule, wenn möglich erst mit zwölf Jahren.
„Je mehr Smartphone, desto unglücklicher“
„Der enorme Medienkonsum von jungen Kindern, aber auch Jugendlichen ist ein großes Risiko für deren Gesundheit. Das ist Ernst, kein Spaß und keine veraltete Kritik eines alten Mannes, sondern basiert auf handfesten Studienergebnissen“, hielt der Genforscher und Therapeut fest. „Je mehr Smartphone, desto unglücklicher sind die Kinder. Drei Stunden am Tag verdoppeln das Depressionsrisiko.“ Nicht zu unterschätzen sei auch die krankmachende Suchtwirkung des Gamens. „Statt in der Kinderhorde unterwegs zu sein, sitzen die Kids mit wachsenden Bäuchen und Chips bis zum Umfallen vor der Konsole in ihrem Kinderzimmer, das zum Kriegszimmer wird.“ Vor diesem Hintergrund war Joachim Bauers Vortrag auch ein Fingerzeig, ein gutes Vorbild für unsere Kinder zu sein. Denn wir Erwachsenen sollten eigentlich wissen, wie’s geht.
Autorin: Christine Flatz-Posch
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Kooperation mit Russmedia und dem ORF Vorarlberg durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 80 Vorträge können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgelesen und nachgehört werden.
„Was Kinder brauchen, um zu gedeihen“
Vortrag von Univ.-Prof. Dr. med. Joachim Bauer, Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut (Lehrtherapeut, Supervisor), Autor, Berlin.