"Wertvolle Kinder"-Vortrag: Heut' Prinzessin, morgen Waldentdecker
Wie wird mit Geschlechterrollen in der Kinderbetreuung umgegangen?
Wie wirkt sich unsere Wahrnehmung von Geschlecht auf Kinder aus – und zwar dort, wo Kinder auf andere Kinder treffen? Damit befasste sich die Genderforscherin Julia Nentwich in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs, die diesmal in der KIMI Kinderbetreuung von Prisma in Lustenau gastierte. Zu ihren Erkenntnissen kam die St. Galler Psychologin im Rahmen des Forschungsprojekts „Puppenstuben, Bauecken und Waldtage. Gender in der Kita“: In unterschiedlichen Schweizer Kinderbetreuungseinrichtungen wurde untersucht, wie genderreflektiert der pädagogische Alltag abläuft. Die Studie zeigt, dass Fachpersonen grundsätzlich den Anspruch haben, alle Kinder gleich und fair zu behandeln. Trotz dieses Gleichbehandlungspostulats würden viele Stereotype umherschwirren, erklärte die Uniprofessorin. Denn auch wenn wir davon überzeugt seien, alle Kinder gleich zu behandeln, so würden wir dennoch Unterschiede machen. „Unsere Forschung zeigt, dass männliche Erzieher sich in der direkten Interaktion gegenüber Jungen stärker sachlich-gegenstandsbezogen verhalten und Frauen gegenüber Mädchen mehr beziehungsorientiert.“
Fester Rhythmus versus freies Spiel
Bei einer genderreflektierten Pädagogik gehe es darum, wie viele Möglichkeiten zum Ausdruck ihrer Selbst Kinder vorfinden. Die Chance, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, sei in den Kitas umso kleiner, je stärker reglementiert Ablauf und Tagesrhythmus sind. „Es kommt auf die Ziele an und das Bild, das die Einrichtung nach außen vermitteln will“, stellte Nentwich fest. „Ist die hauswirtschaftliche Ordnung wichtig, also dass die Kinder satt und sauber sind, oder eine anregende Lernumwelt?“ Je mehr Raum zum freien Spiel und zur spontanen Zeiteinteilung vorhanden sind, desto bunter ist laut der Wissenschaftlerin die Spielwiese für Kinder, um sich auszuprobieren. Dies brachten die Forschungen u. a. in einem Waldkindergarten, einer Montessori-Einrichtung und klassischen Kinderbetreuungseinrichtungen zutage.
Stereotype wirken subtil
Große Bedeutung komme auch der Materialauswahl zu, denn „es passiert subtil, wo der richtige Platz für ein Kind ist“. Es sei beispielsweise von Bedeutung, ob mehr Bastel- als Werkmaterial zur Verfügung steht, ob’s fürs Rollenspiel nur Küchen- und Babyecken gibt oder ob auch Materialien für Technik und Naturwissenschaft angeboten werden. „Die Idee ist, eine vielfältige Umgebung zu schaffen, wo nicht stereotypes Genderverhalten gefördert wird“, so die Expertin. Nicht immer sei dieser Zugang von Eltern akzeptiert. Ein Pädagoge aus dem Publikum bestätigte dies aus eigener Erfahrung: „Wir wurden beschuldigt, Kinder zur Homosexualität zu erziehen, weil ein Junge beim Abholen durch den Vater noch das Prinzessinnenkleid trug, das er sich im Rollenspiel angezogen hatte.“
Reflektierter Umgang
Welche Klischee- und Idealbilder verstecken sich im Betreuungsalltag? Wie sehen die Konsequenzen meines Verhaltens aus? Welche Schwerpunkte setze ich? Es lohne sich, so die Expertin, diesen Fragen nachzugehen und das eigene pädagogische Handeln situationsadäquat zu überdenken – um Kindern ein mannigfaltiges Spektrum an Möglichkeiten zum Ausdruck ihrer Selbst zu bieten.
Mehr Infos zum Forschungsprojekt „Puppenstuben, Bauecken und Waldtage. Gender in der Kita“ und weitere Publikationen zum Thema gibt's auf: www.gender-kita.ch
Autorin: Christine Flatz-Posch
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Kooperation mit Russmedia und dem ORF Vorarlberg durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 80 Vorträge können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgelesen und nachgehört werden.
Genderreflektiertes Handeln im pädagogischen Alltag
Vortrag von Prof.in Dr.in Julia Nentwich, Qualitative Forschung zu Gender in Organisationen, Titularprofessorin für Psychologie, St. Gallen.