Kontaktabbruch: Von alten Familienwunden und neuen Chancen
„Es ist ein Thema, das oft unter der Decke gehalten wird, über das keine Familie gerne spricht“, so Claudia Haarmann zu Beginn ihres Vortrages zum Thema „Kontaktabbruch: Eltern und Kinder, die verstummen“ in der Reihe „Wertvolle Kinder“. Ein Thema, das Scham auslöse und doch überall zu finden sei. In ihrer Praxis in Essen berät die Körper- und Traumatherapeutin sowohl Kinder, die den Kontakt zu Vater und Mutter abgebrochen haben als auch betroffene Eltern.
Dabei seien diese Familienzerwürfnisse nicht nur individuell dramatisch. Sondern auch gesellschaftlich: Soziologen glauben, dass sich in Deutschland jährlich hunderttausend erwachsene Kinder von ihren Eltern entfernen. Laut einer Studie der Universitäten Köln und Halle aus dem Jahr 2021 hat sich jeder fünfte Sohn von seinem Vater und jede zehnte Tochter von ihrer Mutter entfremdet. „Da passiert etwas, über das wir dringend reden müssen“, konstatierte Haarmann.
Denn: „Wenn wir erkennen, wo die Problematiken herkommen, dann ist das der wichtigste Schritt, dass es leichter wird. Und ich glaube, wir müssen schauen, dass es leichter wird.“
Das Miteinander, das im Ohneeinander feststeckt
Mehrfach sind es erwachsene Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern lösen. Fragt man sie nach den Gründen, gibt es meist eine lange Vorgeschichte. Nach einem Schlüsselmoment aber suche man vergebens. Schließlich gehe es keineswegs um Familien, in denen Gewalt, sexueller Missbrauch oder emotionale Grausamkeit vorherrsche: „In solchen Familien müssen Kinder, um gesunden zu können, aus dem Kontakt gehen.“ Vielmehr gehe es um Bindung: „Um ein schwieriges Miteinander, das im Ohneeinander feststeckt.“
„Bei Kontaktabbrüchen
in der Familie geht es um
Bindung. Um ein schwieriges
Miteinander, das im
Ohneeinander feststeckt.“
CLAUDIA HAARMANN
Zu viel Nähe, zu viel Distanz
Dementsprechend weisen die Vorwürfe, die Kinder gegen ihre Eltern erheben, stets in zwei Richtungen: Sie fühlen sich emotional über- oder unterversorgt. Der Gegenstand des Konflikts sei in der Regel zu viel Nähe oder zu viel Distanz, erklärte Haarmann. Oftmals seien es auch schlimme Ereignisse, die Kinder zwingen würden, hinzusehen: Angst, depressive Episoden, Panikattacken.
Der fehlende Schlüsselmoment
Vor diesem Hintergrund mache es erst gar keinen Sinn, nach konkreten Ereignissen, einem isolierten Ereignis zu suchen: Kontaktabbrüche zwischen Eltern und Kindern bringen etwas Altes, die Vergangenheit zur Sprache. „Es geht um den Zustand des Bandes zwischen den Familienmitgliedern“, so Haarmann. Um die Atmosphäre in der Familie, um vorhandene oder nicht vorhandene Kapazitäten für ein Miteinander. Um einen Mangel an Bindung, den die jungen Erwachsene erst jetzt, den Kinderschuhen entwachsen und auf eigenen Beinen stehend, reflektieren könnten.
„Den erwachsenen Kindern
geht es um einen Mangel
an Bindung, den sie erst
jetzt, im Erwachsenen-
alter, reflektieren können.“
CLAUDIA HAARMANN
Das ohnmächtige Kind
Die Liebe zwischen Eltern und Kindern stehe auf eben diesen Säulen, die völlig gleichberechtigt seien: Nähe und Distanz. Nah sein und trotzdem frei sein dürfen. „Nähe und Freiheit, das ist die Kerndefinition von Bindung und die Kerndefinition von Liebe. Und das ist das große Thema zwischen Eltern und Kindern“, fasste die Traumatherapeutin zusammen.
Essentiell dabei: Bindungsthemen sind existentielle Themen. Wenn ein Kind sich angegriffen fühlt, kann es weder kämpfen, noch fliehen - es ist abhängig von den Eltern. Kinder erstarren häufig in einer Ohnmacht, gefangen in dem Gefühl, wehrlos zu sein. „Und das ist sowohl biologisch als auch seelisch das schwierigste Gefühl überhaupt, das wir haben“, so Haarmann.
Ein Riss durch die Familie – Generationen später
Claudia Haarmann sieht Kontaktabbrüche dementsprechend als den Endpunkt alter Beziehungsproblematiken zwischen Alt und Jung. Diese seien jedoch nicht isoliert zu betrachten. „Es geht nicht um die eine Familie“, betonte Haarmann: Kontaktabbrüche haben fast immer einen transgenerationalen Hintergrund. Die Bindungsmuster und die daraus resultierenden Beschädigungen gehen über Generationen hinweg.
Dementsprechend könnten die Problematiken auch nur verstanden werden, wenn das gesamte Familienbild in den Blick genommen werde: Großeltern, Eltern, Kontaktabbrecher, mitunter die Enkel. Dasselbe Thema, der Mangel an Bindung, ziehe sich durch alle Generationen. Was wir sehen? Wie Kriegstraumatisierung und jede Art von Traumatisierung in der Familie weiterwirkt, erläuterte Haarmann. Denn Trauma und unbearbeiteter Schmerz verschließe uns Menschen.
Vom Leidensrucksack der Nachkriegsgenerationen
Dasselbe Thema, derselbe Schmerz. Was aber unterscheidet die Generationen? „Meiner Erfahrung nach, sind die Eltern, die zu distanziert sind, eher die Älteren, die 40er-, 50er-, 60er-Jahrgänge. Also eher die Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge. Es sind jene Jahrgänge, die das nicht anders können“, so Haarmann. Und fügte hinzu: „Es scheint mir wichtig, weil wir es beinahe mit einem Massenphänomen zu tun haben“. Gemeint: der große Leidensrucksack der Nachkriegsgenerationen. In den 50er- und 60er-Jahren galt für Kinder die absolute Unterordnung. Sie hatten unerträgliche Erziehungsmaßnahmen zu erleiden: Hiebe statt Liebe, Strenge statt Geborgenheit. Der Umgang in Familien war oft unerbittlich, die Gesellschaft gegenüber Kindern hart und kalt, schilderte sie.
So hätten diese Jahrgänge vor allem eines gelernt: Ich bedeute nichts. Abgeschnitten vom eigenen Gefühl und damit sich selbst, war die Fühlfähigkeit auf der Strecke geblieben. Um den eigenen Schmerz nicht fühlen zu müssen, hatten sie gelernt zu schweigen und trotz geballter Wut auszuhalten und zu funktionieren.
Ganz anders sei es oftmals bei den Eltern der End-60er und 70er Jahrgänge: Sie wieder wissen, was es heißt, in Lieblosigkeit groß zu werden, haben eher das Bedürfnis nach zu großer Nähe - und „überlieben“ ihre Kinder.
Wenn die gemeinsame Sprache fehlt
Dem stehe nun eine neue Generation gegenüber, fügte Haarmann hinzu – und präzisiert: Die erste Generation, die sich traue, zu fühlen. Eine Generation, die Zugang zu den eigenen Gefühlen habe und nicht mehr nur aus dem Kopf heraus funktioniere. Erst dadurch werde es möglich, das Bindungsthema überhaupt zu verarbeiten.
Die Kinder legten damit den Finger in die Familienwunde: Sie decken das Dilemma sozusagen auf. Sie trauen sich zu fühlen, stehen zu dem Schmerz, halten ihn aus – „die erste Generation, der das möglich ist“. Damit aber prallen unterschiedliche Lebenswirklichkeiten aufeinander, die Haarmann mit den Begriffen Selbstbegrenzung und Selbstbefreiung umreißt. Die gemeinsame Sprache aber, die fehle.
Alte Wunden und neue Chancen zu heilen
Als zunehmend irritierend bezeichnete Claudia Haarmann in diesem Zusammenhang, dass mehr und mehr junge Erwachsene ihren Eltern beinahe feindlich gegenüberstünden. Immer öfter sei die Sprache von toxischen Eltern-Kind-Beziehungen. Abwertung aber bringe uns keinen Schritt weiter. Stattdessen appellierte die Therapeutin an das Mitgefühl: „Gerade von einer Generation, die für sich Respekt und Achtsamkeit einfordert, die ihre Sehnsucht nach Anerkennung und Wertschätzung zum Ausdruck bringt, wo ist da das Mitgefühl, die achtsame Analyse für ihre Herkunft?“
Transgenerationale Traumata, Bindungswunden, die über Generationen weitergehen, würden nur heilen, wenn jetzt junge Menschen bereit seien, den Schmerz zu verarbeiten, zu verschmerzen: Die Jüngeren schließlich hätten auf breiter Ebene zum ersten Mal die Chance, mit all den verhängnisvollen Bindungs- und Beziehungsmustern aufzuräumen.
„Transgenerationale Traumata,
Bindungswunden, die über
Generationen weitergehen,
werden nur heilen, wenn jetzt
junge Menschen bereit sind,
den Schmerz zu verarbeiten.“
CLAUDIA HAARMANN
Sie, die Jüngeren, so Haarmann, hätten ein Recht, einen guten Platz im Leben einzunehmen und das gehe oft nur über die vorübergehende Abgrenzung der Eltern.
Unter den Eltern erlebe sie wiederum viele, die - zunächst fassungslos von den Vorwürfen - wirklich versuchten, ihre Kinder zu verstehen. Die anerkennen können, dass in der Familie etwas falsch gelaufen ist. Die es aber nicht mehr schaffen, das ganze Ausmaß der familiären Bindungswunde zuzulassen. Die Tragik ihrer eigenen Kindheit sei zu verdrängt: „Diese Eltern spüren oft ihre Unnahbarkeit. Aber sie haben Angst, dass sie ihr ganzes Leben in Frage stellen müssen. Angst, an Dinge zu kommen, die sie nicht mehr verkraften können. Und ich glaube, sie haben ein Recht darauf, eine Decke des Schweigens darüberzulegen. Es in Zukunft besser zu machen, ist genug.“
Claudia Haarmann ist Körper- und Traumatherapeutin, Journalistin und Autorin. Sie hat eine psychotherapeutische Praxis in Essen und berät sowohl Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben als auch betroffene Eltern.
Vortrag verpasst?
Der Vortrag kann in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgehört werden - hier entlang bitte.
In Kooperation mit KIMI Lustenau
Buchtipp
CLAUDIA HAARMANN: „Kontaktabbruch in Familien: Wenn ein gemeinsames Leben nicht
mehr möglich scheint“
Herausgeber: Kösel-Verlag; 4. Edition, 2019
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN-10: 3466347394
ISBN-13: 978-3466347391
Wertvolle Kinder: „Neue
Väter – neue Mütter“
Der nächste Vortrag der Reihe „Wertvolle Kinder“ rund um das Thema „Neue Mütter - neue Väter: Warum Familie nur gemeinsam gelingt“ von Prof.in Dr.in Margrit Stamm findet am 19. April um 20 Uhr im Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde statt.
Infos & Anmeldung:
T 05574 4992-5563
a.pfanner@voki.at
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 100 Vorträge aus der renommierten Reihe können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgelesen und nachgehört werden.
Autorin: Stephanie Jiménez