Pseudo-Autismus bei Kindern im Vormarsch
Schon die Kleinsten hängen oft mehrere Stunden täglich am Tablet oder Handy – mit tiefgreifenden Folgen, warnte Autismus-Expertin Sonja Gobara in der Reihe „Wertvolle Kinder“.
Sonja Gobara ist Kinderärztin, Familientherapeutin und Leiterin des Autismuszentrum Sonnenschein in St. Pölten. Für ihren Vortrag auf Einladung des Vorarlberger Kinderdorfs im Medienhaus Schwarzach konnte man bereits Wochen vorher keinen Platz mehr ergattern. In den letzten Jahren sei es zu einer deutlichen Zunahme von Autismus-Diagnosen bei Kindern gekommen, hielt die Expertin fest. Einerseits sei dies der vermehrten Aufmerksamkeit für das Thema geschuldet, aber auch einer differenzierteren Diagnostik.
Abklärung je früher, desto besser
Die sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen bringen große Auffälligkeiten in Sprache, Kommunikation und Sozialverhalten mit sich. Schon früh würden betroffene Kinder durch eine Hypersensibilität auf Reize sowie eine reduzierte Mimik und Gestik herausstechen, durch fehlenden Blickkontakt und Aufmerksamkeitsdefizite. „Häufig verwenden sie die Hand des Erwachsenen als Werkzeug oder fallen durch motorische Besonderheiten wie Zehenspitzengang auf“, erklärte Gobara. Verhaltensstereotypien, ein markantes Interesse an Details und Mustern oder eine schrille Stimmlage seien weitere „Red Flags“, die eine Abklärung unbedingt notwendig machen würden. Denn zwar zeige sich schon früh, dass etwas nicht stimme, meist würden aber erst im Kindergarten aufgrund von Verzögerungen bzw. Störungen in der Sprachentwicklung die Alarmglocken schrillen. „Mir wäre es am liebsten, wenn die Kinder bereits mit 18 Monaten zu uns kommen“, betonte die Medizinerin. „Je eher die Diagnose gestellt wird, desto besser ist Autismus behandelbar. Entsprechende Screenings sind bereits mit einem Jahr möglich.“
Neues Phänomen: Pseudo-Autismus
Sorgen bereitet der Kinderärztin aber besonders eine Entwicklung der letzten Jahre: „Immer jüngere Kinder spielen mit Handy und Tablet. Es ist keine Seltenheit, dass sich unter Dreijährige bis zu acht Stunden am Tag mit dem Smartphone beschäftigen“, skizzierte die Vortragende eine gesellschaftliche Tendenz mit gravierenden Folgen. Denn Kinder, die täglich und stundenlang ohne Kontrolle mit digitalen Geräten verbringen, können kaum mehr mit anderen kommunizieren.
„Schon die Kleinsten
hängen am digitalen
Schnuller.“
SONJA GOBARA
Genau wie autistische Kinder hätten Kinder mit sogenanntem „Pseudo-Autismus“ oder „virtuellem Autismus“ erhebliche Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren, den Blickkontakt zu halten oder die Gefühle anderer zu erkennen. Während bei einer „richtigen“ Autismus-Spektrum-Störung erbliche Faktoren als Hauptursache gelten, sind es hier die fehlende Aufmerksamkeit der Eltern gepaart mit exzessivem Medienkonsum, die zu weitreichenden Störungen führen können.
Wischen statt blättern
Kinder mit Pseudo-Autismus tun sich schwer im emotional-sozialen Bereich und beim Spracherwerb – damit stellt der exzessive Konsum digitaler Medien im Kindesalter einen klaren Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. „Sprache erwirbt man in der Beziehung und sozialen Interaktion“, erklärte die Expertin: „Immer mehr Kinder, die in den Kindergarten kommen, haben offensichtlich noch nie ein Bilderbuch angeschaut. Sie wischen mit dem Finger über die Seiten. Oder sie stehen vor dem Aquarium und versuchen, die Fische mit dem Finger größer und kleiner zu machen.“
Warum Kinder resignieren
Gobara brachte auch die Corona-bedingte Erhöhung der Bildschirmzeit zur Sprache. „Wenn alle Familienmitglieder in die digitale Welt versunken sind, kommen die Bedürfnisse der Kinder zu kurz. Die Folge beim Kind sind Resignation und Frustration.“ Eltern müsse bewusst gemacht werden, welche prägenden Auswirkungen ihr Verhalten für Kinder habe, gerade wenn diese noch sehr klein sind. „Wenn ich beim Spazierengehen oder Füttern ins Handy statt ins Gesicht meines Babys schaue, und meinem Kind keine liebevolle Nähe gebe, kann das zu Bindungsstörungen führen.“ Später würden Kinder, die in ihrem Bedürfnis nach elterlicher Aufmerksamkeit immer wieder enttäuscht werden, mit Abschottung reagieren. „Sie beamen sich in Parallelwelten aus der Gemeinschaft heraus und vereinsamen.“
Was tun?
Der Wunsch und Appell der Autismus-Expertin ist so klar wie dringlich: Unter Dreijährige sollten nicht mit digitalen Medien in Berührung kommen, dafür umso mehr mit sozialem Gegenüber und Bilderbüchern. Außerdem fordert sie Workshops zur Sprach- und Medienkompetenz für Eltern, ebenso wie mehr Aufklärung. Vielen Eltern sei nicht bewusst, welchen Schaden sie anrichten, wenn sie ihre Kinder quasi vor dem Tablet abstellen.
„Unter Dreijährige
sollten nicht mit
digitalen Medien in
Berührung kommen,
dafür umso mehr mit
sozialem Gegenüber
und Bilderbüchern.“
SONJA GOBARA
Dabei würden sich Kinder heute das Gleiche wie früher wünschen: Zeit und Nähe von Eltern und Bezugspersonen, eine Gutenachtgeschichte, draußen sein, mit Freunden spielen, radfahren … „Der Alltag ist entscheidend, nicht die virtuelle Welt“, betonte Gobara. „Wir lernen und entwickeln uns, in dem wir die Welt gemeinsam erleben und unsere Erfahrungen mit anderen teilen.“
Prim. Dr.in Sonja Gobara MSc. ist ärztliche Leiterin am Autismuszentrum Ambulatorium Sonnenschein in St. Pölten, das auf Diagnostik und therapeutische Begleitung spezialisiert ist.
Vortrag verpasst?
Der Vortrag kann in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgehört werden.
In Kooperation mit Geburtskultur a-z
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 100 Vorträge aus der renommierten Reihe können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgelesen und nachgehört werden.
Autorin: Christine Flatz-Posch