Wie traumatisierte Kinder wieder gehen lernen
Die psychischen Folgen von Traumata als „tiefgreifende Verletzung der Seele“ wiegen schwer und haben enorme Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg. Aber was macht ein belastendes Ereignis für Kinder überhaupt zu einem Trauma? Miriam Rassenhofer gab dazu spannende Einblicke in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs, diesmal in Kooperation mit Prisma und dem „KIMI Lustenau“. „Fight oder Flight, also Kampf oder Flucht, sind die aktiven Handlungsmöglichkeiten bei einer Traumatisierung bzw. die Reaktionen auf Stress“, erklärte die leitende Psychologin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. „Funktionieren diese Optionen nicht, kommt es zum Kontrollverlust und zum sogenannten ,Freezing‘, einer emotionalen Erstarrung.“
Auslöser und Trauma-Typen
Auslöser für Traumata sind laut Rassenhofer beispielsweise Naturkatastrophen, Gewalt (auch beobachtete), Misshandlung, ein schwerer Unfall oder Kriegserlebnisse. Immer sei dabei auch die Integrität des Körpers betroffen. Ob eine Erschütterung langfristig nachwirkt und zu einer psychischen Störung führt, hänge zudem vom „Trauma-Typ“ ab. „Bei einem Single-Trauma – einem einmaligen Erlebnis – ist die Hauptemotion Angst. Die Behandlungsprognose ist gut.“ An eine chronische Traumatisierung wie durch andauernde Misshandlung hingegen hätten betroffene Kinder oft nur diffuse Erinnerungen. „Hier sind Scham und Ekel häufige Emotionen. Aber auch dieser Trauma-Typ ist behandelbar“, betonte die Trauma-Expertin. Grundsätzlich hätten durch Menschen verursachte Traumatisierungen schwerwiegendere Folgen als z. B. Umweltkatastrophen.
Flashbacks und ständig unter Strom
In jedem Fall seien akute Belastungsreaktionen ganz normal. „Wenn Anpassungsstörungen mit Symptomen wie Depression, Aggression oder Angstzustände nach vier Wochen nicht weg sind, spricht man von einem Trauma.“ Auch „Flashbacks“ würden auf eine Belastungsstörung hinweisen. „Dieses intensive Wiedererleben der Geschehnisse tritt umso häufiger auf, je mehr versucht wird, das belastende Ereignis wegzuschieben.“ Betroffene hätten „das Gefühl, verrückt zu werden, den Verstand zu verlieren“. Flashbacks würden zu emotionaler Abstumpfung oder dem Gegenteil – ständiger Überregung – führen. „Die Kinder bleiben im Stressmodus stecken, der Alltag wird überaus schwierig“, berichtet die Kinder- und Psychotherapeutin aus der klinischen Praxis. „Die Symptome und Störungen sind jedoch sehr altersabhängig, reichen von Bindungs- und Regulationsstörungen bei Babys bis zu Selbstverletzung und Suizidalität in der Adoleszenz.“ Mit einer erschreckenden Zahl verdeutlichte Miriam Rassenhofer, wie gravierend sich Traumata auswirken können. „Von einem Trauma Betroffene haben ein zwölffach höheres Risiko, einen Suizidversuch zu begehen. Der Zusammenhang zwischen Suizidversuch und Trauma ist damit um ein Vielfaches höher als jener zwischen Rauchen und Lungenkrebs.“
Was schützt vor der dunklen Angst?
Immerhin zwischen 35 und 65 Prozent aller betroffenen Kinder seien jedoch resilient und würden auch schwerwiegende Misshandlungen ohne relevante Folgen überstehen. Intensiv wird deshalb nach sogenannten resilienzfördernden Faktoren im Kindesalter geforscht. „Resilienz entsteht aus einem komplexen Wechselspiel zwischen Risiko- und Schutzfaktoren.“ Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status und viel sozialer Unterstützung hätten ein weit geringeres Risiko, dass sich eine schwere Belastung zu einem Trauma entwickelt. Auch ein positiver Selbstwert, Intelligenz, Bildung und Problemlösungskompetenz würden die innere Widerstandskraft erhöhen. „Traumatisierte Kinder hingegen sind wie ein Vulkan, der kurz vor der Explosion steht. Sie stehen ständig unter Strom, haben starke Verlustängste, sind misstrauisch, übervorsichtig – die dunkle Angst nagt an ihnen.“
Verlässlichkeit und Dinge, die guttun
Im Umgang mit Betroffenen sei zuallererst Transparenz gefordert. „Erklären, was als nächstes ansteht, Kinder in die Entscheidungen miteinbeziehen“, rät Rassenhofer. Verlässlichkeit sei ebenso entscheidend, ein stabiler Alltag, eine feste Tagesstruktur. Auch brauche es Zeit und Raum für angenehme Aktivitäten, für Dinge, die guttun. Keinesfalls sollten, so die Expertin, übliche Regeln und Rituale außer Kraft gesetzt werden, denn die Welt stehe eh schon Kopf. Eine „gute Schlafhygiene“ wirke sich außerdem sehr positiv aus.
Traumatherapie statt Vergessen
Bei einer Traumatisierung ist professionelle Unterstützung unumgänglich, zum Beispiel im Rahmen einer traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie. „Ziel ist nicht das Vergessen. Wir können das Trauma nicht löschen“, erklärte die in Ulm zum Thema Resilienz forschende Psychologin. „Aber wir können erreichen, dass betroffene Kinder und Jugendliche weniger Angst haben, ihre belastenden Gedanken verändern und vom hohen Stresslevel herunterkommen.“ Eine therapeutische Behandlung traumatisierter Kinder sei umso wichtiger, da von Gewalt betroffene Kinder ein hohes Risiko haben, abermals Gewalt zu erleben. Traumatherapie sei wie „das sorgfältige Auswaschen einer Wunde mit Wasser und einer Pinzette, bis auch das kleinste Steinchen entfernt ist“.
Der Vortrag kann in unserer Mediathek nachgehört werden.
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt.