„Alles ganz schön aufreibend“
Wertvolle Kinder: Familien heute brauchen ein ausgeklügeltes Zeitmanagement und mehr gesellschaftliche Unterstützung.
Zwar liegt das goldene Zeitalter der Familie längst hinter uns und umfasste zwischen 1950 und 1970 nur knapp zwei Jahrzehnte, dennoch sind „die Idealvorstellungen, wie Familie ausschauen sollte“ nach wie vor prägend – und können auch Stress erzeugen, so die Wiener Soziologin Ulrike Zartler, die in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorf bei Russ Media für ein volles Haus sorgte. „Der Mann in der klassischen Ernährer-Rolle, die Frau für Haus und Kinder zuständig“ – nach wie vor seien zumindest Teile dieses traditionellen Familienbildes tief verwurzelt. Dies bestätigen Umfragen, wonach 62 % der Frauen und 72 % der Männer glauben, dass „ein Vorschulkind wahrscheinlich darunter leidet, wenn die Mutter berufstätig ist“. Was jedoch meist der Fall ist. Zwei Drittel aller Familien wählen das „Eineinhalb-Verdiener-Modell“, bei dem der Vater Vollzeit und die Mutter Teilzeit arbeitet.
„Ich habe eigentlich keine Zeit zum Atmen.“ (alleinerziehende Mutter)
Altes Bild – neue Anforderungen
Das auch medial propagierte Idealbild der Familie kollidiert mit einer großen Offenheit der Lebensentwürfe. „Familien, die nicht der Norm entsprechen, kann das unter Druck setzen – wenn sie versuchen, unter völlig veränderten Rahmenbedingungen den Klischees gerecht zu werden“, so Zartler. Zum einen werden Familien durch eine weit höhere Scheidungs- und Trennungsrate instabiler – in Österreich liegt sie derzeit bei 43 Prozent –, zum anderen spielt sich Familie heute im Spannungsfeld unterschiedlichster und oft widersprüchlicher Erwartungen ab.
Alle wünschen sich vor allem eines: mehr Zeit
Gestiegene Anforderungen an die Kindererziehung, an die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Mobilitätsdruck und ein enormes Freizeit- und Förderangebot für Kinder lassen den Alltag oft zum Balanceakt werden, der ohne ein ausgeklügeltes Zeitmanagement nicht machbar ist. Dabei zeigen Umfragen, dass sich Eltern wie Kinder vor allem eines wünschen: mehr Zeit. Die häufig bemühte „Qualitätszeit“ hat sich laut Ulrike Zartler relativiert. „Kinder lassen sich nicht in eine Qualitätszeit pressen. Das Wichtigste erzählen sie oft nebenbei.“
„Meine eigene Familie in Zukunft stelle ich mir so vor wie meine Familie jetzt. Nur dass man nicht getrennt ist.“ (Bub, 10 Jahre)
Verplante Freizeit
Der Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt erfordere Planung, Kommunikations- und Konfliktlösungskompetenzen und das Setzen von Grenzen zwischen den einzelnen Lebensbereichen. „Alles ganz schön aufreibend“, meint Zartler, würden doch viele Eltern vor allem als Taxi und Nachhilfelehrer ihrer Kinder fungieren. „Die Freizeit ist verplant. Dabei wird vor allem die Schule als belastend erlebt.“ So würden sich 65 % der Mütter durch schulische Aktivitäten belastet fühlen.
Familien brauchen mehr Unterstützung
Insgesamt erfüllen Familien wichtige und anspruchsvolle Aufgaben und sollten dabei von der Gesellschaft mehr unterstützt werden, fordert Zartler. „Ein bisschen mehr Wertschätzung für die Bewältigung dieser vielfältigen Aufgaben und ein bisschen weniger Anwesenheitskultur im Job“ seien wichtig. Darüber hinaus plädiert die Familienforscherin für ausreichend Kinderbetreuungsmöglichkeiten, entsprechende materielle Unterstützung, eine angemessene Kooperation von Schule und Familie und mehr Verständnis seitens der Wirtschaft.
Der Königsweg
Was Eltern selbst tun können? Eine wichtige Komponente in der neuen familiären Verhandlungskultur ist laut Zartler ein „autoritativer Erziehungsstil“ – die Königsdisziplin der Pädagogik – und auch dieser ist eine Gratwanderung zwischen zu viel Grenzen und zu wenig, zwischen Klarheit und Aushandeln, zwischen vorgeben und gewähren lassen. Spannend bleibt es in jedem Fall.