„Wir wissen noch viel zu wenig“
Der Umgang mit selbstverletzendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen ist für alle Beteiligten eine enorme Herausforderung. Professionelle Hilfe wird zu wenig und oft zu spät geholt.
Der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater Romuald Brunner sprach in der Reihe „Wertvolle Kinder“ von einer „erheblich gewachsenen Problematik“. Expertenhilfe werde, wenn überhaupt, im Durchschnitt erst nach etwa neun bis 14 Monaten in Anspruch genommen. „Zu spät“, meint Brunner. Dann nämlich würden sich die betroffenen Jugendlichen schon verzweifelt und die Eltern sich hilflos und „total erschöpft“ fühlen. Nicht jeder Jugendliche, der selbstschädigendes oder riskantes Verhalten zeigt, brauche eine professionelle Intervention. „Wir wollen aber auch nicht versäumen, einen schlechteren Verlauf zu verhindern.“ Insgesamt sei die Inanspruch-
nahme von fachlicher Unterstützung mit zehn bis zwölf Prozent gering.
Selbstverletzung und Suizidalität
Zu unterscheiden ist zwischen direkter Selbstschädigung wie Ritzen, Stechen, Haare ausreißen, Schneiden oder Wunden aufreißen, und indirekter Selbstverletzung, z. B. Rasen und „Koma-Trinken“. Die Verhaltensweisen hätten nicht zwangsläufig einen dramatischen Verlauf. Gerade im Schulumfeld würden Nachahmung und Ansteckung eine große Rolle spielen. „Die Symptome tauchen auf, verschwinden aber auch wieder“, so der leitende Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heidelberg. Dennoch sei selbstverletzendes Verhalten mit einem erhöhten suizidalen Risiko verbunden. „Selbstverletzung und Suizidalität sind zwei Phänomene, die eng zusammengehören und die man gemeinsam betrachten muss. Es geht immer um die Frage, ob hinter dem selbstdestruktiven Verhalten eine Suizidabsicht steht.“
Erleben von Entfremdung
Im klinischen Bereich würde z. B. Ritzen selten ohne andere Problematik, wie eine Depression, beobachtet. Etwa die Hälfte aller psychischen Erkrankungen beginnt um das 14. Lebensjahr, Angst- und Impulskontrollstörungen nehmen schon mit elf Jahren ihren Anfang. Brunner schilderte entlang zweier klinischer Fälle häufige Motive für selbstverletzendes Verhalten. Die Jugendlichen würden eine extreme innere Anspannung spüren und über mangelnde Fähigkeiten zur Selbstberuhigung verfügen. Auch Entfremdungserleben und Wahrnehmungsstörungen spielten eine Rolle. So erklärte zum Beispiel ein Mädchen, dass ihr das eigene Gesicht im Spiegel ganz fremd vorkomme. Durch Schneiden oder Ritzen könne nach Angaben der Jugendlichen eine Entlastung erreicht werden, um Gefühle von Taubheit und Entfremdung, Einsamkeit und Leere, aber auch Wut und Verzweiflung für kurze Zeit zu beenden.
Warum?
Brunner schnitt auch die Frage nach dem Warum an. Viele soziale Faktoren, u. a. Verlusterlebnisse, Traumatisierung, Mobbingerfahrungen, sexueller Missbrauch oder fehlende soziale Unterstützung, würden in diesem Zusammenhang genannt. Es ließen sich jedoch keine spezifischen sozialen Faktoren als Ursache für selbstverletzendes Verhalten festmachen. Allen Jugendlichen, die selbstschädigendes Verhalten zeigen, ist jedoch gemein, dass sie nur schwer Konflikte aushalten könnten. „Diese Jugendlichen haben unter Stress keine andere Methode zur Verfügung.“ Ziel einer Therapie sei es deshalb vor allem, mit Stress und Anspannung umgehen zu lernen. Neben Spannungsabbau sei auch Selbstbestrafung ein Motiv für Selbstverletzungen. Oft seien die Betroffenen nicht nur autoaggressiv, sondern hätten auch „aggressive Impulsdurchbrüche gegenüber anderen“.
Mehr heimliche Selbstverletzungen
Prof. Brunner nannte auch eine Veränderung von der offenen zur heimlichen Selbstverletzung, die sich die Jugendlichen nicht nur an den Armen, sondern auch an Rumpf, Bauch oder im Genitalbereich zufügen würden. Essstörungen, depressive Erkrankungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch seien vielfach begleitend feststellbar. Der Konsum von Suchtgiften führe zu einer Verschlimmerung des selbstverletzenden Verhaltens, weil „dadurch die Selbstkontrolle noch weiter herabgesetzt werden kann“.
Warnsignale
„Wir wissen noch viel zu wenig, was diesen Jugendlichen helfen kann“, stellte Brunner fest und nannte Warnsignale: Heimlichtuerei zum Beispiel, wenn Jugendliche es gar nicht mehr mögen würden, dass die Eltern nachhaken, häufige und nicht erklärbare Schnittwunden, Vermeiden von Umziehen beim Sport, hohe Impulsivität, unangemessene Kleidung, z. B. langärmlige Shirts beim Sport bei hohen Temperaturen, oder das „Horten“ und Verstecken von Rasierklingen.
Was Eltern tun können
„Eltern sollten Jugendliche auf jeden Fall ansprechen – und das so offen und so früh wie möglich“, erklärte Brunner vor einem sehr interessierten und zahlreich erschienenen Publikum im ORF-Studio. „Sie sollten deutlich erkennbar machen, wie besorgt sie sind, auch wenn der Jugendliche das Gespräch verweigert.“ Hauptziel sei immer, eine Bereitschaft zu erwirken, Hilfe anzunehmen. Generell sollte nicht mit „Panik, Schock und Ablehnung“ reagiert werden, sondern mit Anteilnahme ohne zu dramatisieren und zu urteilen. Dies gelte auch für Lehrpersonen, die mit dieser Problematik oft sehr allein gelassen würden. „Zehn Prozent aller Lehrer haben in ihrer Laufbahn ein Kind durch Suizid verloren und dies nachhaltig als überaus belastend erlebt.“
„Familie nicht schuldig sprechen“
Vor einer Therapie sei in jedem Fall eine „gute Diagnostik“ wichtig, um eventuelle begleitende psychische Störungen und die Notwendigkeit einer stationären Behandlung abzuklären. „Das alles in der Hoffnung, dass die Maßnahmen akzeptiert werden“, betont Brunner. „Der Therapeut braucht die Kooperation mit dem Jugendlichen.“ Der erfahrene Experte rät nicht zu einer „verordneten psychiatrischen Familienanamnese“. „Ich halte nichts davon, Familien zu zwingen, über eigene Probleme zu berichten – außer bei Suizidalität.“ Auch die medikamentöse Behandlung kam zur Sprache: „Manche Jugendlichen bekommen vier verschiedene Medikamente verschrieben und wissen überhaupt nicht, wofür. Es ist deshalb auch so wichtig, durch eine Diagnose festzustellen, ob überhaupt eine überdauernde psychische oder Persönlichkeits-Störung wie Borderline vorliegt“, betont Brunner. Für die Behandlung von selbstverletzendem Verhalten gäbe es kein spezifisches Medikament.
Mit Kurzzeittherapie erfolgreich
Brunner berichtete von einem erfolgreichen Angebot am Universitätsklinikum Heidelberg, wo eine einmonatige Kurzzeittherapie bei selbstschädigendem und riskantem Verhalten im Jugendalter angeboten wird. „Alle Jugendlichen, die uns aufsuchen, bekommen innerhalb von vier Wochen einen Therapieplatz.“ Zudem gäbe es eine offene Sprechstunde mit Kurzscreening oder Diagnostik. Der Fachmann äußerte Kritik an den insgesamt zu langen Wartezeiten für einen Termin zu einer Abklärung bzw. Behandlung. Ein Rückgang von Selbstverletzung und riskantem Verhalten könne auch erreicht werden, „wenn Jugendliche, die mit einer Selbstverletzung ins Krankenhaus kommen, für 24 Stunden dabehalten werden müssen“. Dies würde in anderen Ländern mit gutem Ergebnis praktiziert.
Neue Reihe startet im Herbst
Prof. Dr. Remuald Brunner ging das komplexe und emotionale Thema entlang neuester Forschungsergebnisse und langjähriger praktischer Erfahrung, mit positivem Blick und großer Fachkenntnis an. Er war in dieser 14. Runde der Reihe „Wertvolle Kinder“ der letzte Vortragende. Die neue Reihe startet im Herbst – man darf gespannt auf sieben exzellente Vorträge sein.
Autorin: Christine Flatz-Posch
Infos zu DBT-A Skillstraining – ein Angebot für 14- bis 18-jährige Jugendliche – für einen gesunden Umgang mit den eigenen Gefühlen (bei selbstverletzendem Verhalten, starker innerer Anspannung etc.), Aqua Mühle in Zusammenarbeit mit Caritas und Landeskrankenhaus Rankweil
In Kürze finden Sie hier den Vortrag zum Nachhören (siehe auch: Vokithek des Vorarlberger Kinderdorfs). Zudem wird Johannes Schmidle eine Focus-Sendung zu diesem Vortrag gestalten.
Dieser Vortrag wurde in Kooperation mit pro mente veranstaltet.
Die Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird gemeinsam mit dem ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vorwiegend vom Land Vorarlberg/Fachbereich Kinder und Jugend finanziert. Sämtliche Vorträge können in der Vokithek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgehört werden.