„Aufklärung nicht dem Smartphone überlassen“
„Wertvolle Kinder“: Sexualerziehung auch und gerade im Zeitalter medialer Überflutung in erster Linie Sache der Eltern.
Sexualität ist so sichtbar wie noch nie. 42 Millionen Porno-Websites gäbe es weltweit, so die Schweizer Sexualpädagogin Prisca Walliser in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs. Während für Jugendliche noch vor wenigen Jahrzehnten die heimlich gelesene „Bravo“ einzige mediale Informationsquelle zum Thema Sexualität war, haben heute nach aktuellen Studien 85 Prozent der 15-jährigen Jungen bereits Pornoseiten im Internet besucht.
Teenager werden „Screenager“
Enttabuisierung, mediale Omnipräsenz von Sexualität und digitale Transformation verändern grundlegend die Infokanäle, über die sich Kinder und Jugendliche ein Bild von Sexualität machen. „Teenager werden Sreenager“, sagt Walliser. Das Netz präsentiert sich als riesiger Datenpool, der auf „richtig guten Aufklärungsforen“, aber auch „dunkelsten Seiten im Darkroom“ endlose Datenmengen zum Thema Sexualität parat hält. Einer Gefahrenpädagogik à la Dr. Sommer früherer Generationen steht heute ein Bruch mit jeglichen Tabus und Schamgrenzen gegenüber.
Neuer Zugang, gleiche Fragen
Laut Walliser hat sich zwar der Zugang zu Informationen über Sexualität verändert, die Anliegen der Kinder und Jugendlichen seien jedoch aus ihrer langjährigen Erfahrung als Sexualtherapeutin weitgehend die gleichen. „Wie alt sollte man beim ersten Mal sein?“ oder „Welches ist das beste Verhütungsmittel?“ sind nach wie vor Fragen, die Pubertierende beschäftigen. Vor allem sei Sexualität auch ein „Herzthema“, bei dem es ganz wesentlich um Gefühle gehe. Dabei ist Sexualerziehung keine einmalige Angelegenheit, sondern passiert laufend im Alltag: „Sie beginnt mit der Geburt und hört in der Pubertät nicht auf.“
Eher eklig
„Die Sichtbarkeit und Überpräsenz von Sexualität ist ein Fakt – und hat auch Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung unserer Kinder“, meint Walliser. Um cool zu sein, aus Neugier, Gruppendruck oder einfach, weil es ein zensurloser Freiraum ist, würden Jungen beispielsweise Pornografie im Web konsumieren. „Wenn sie das hin und wieder gemeinsam mit anderen machen, ist das ganz normal“, so Walliser. „Schwierig wird es, wenn der Pornografiekonsum im Netz zur Sucht wird. Dann können diese Bilder das eigene Sexualverhalten prägen und belasten.“ Mädchen würden Pornoseiten als „eher eklig“ empfinden, dennoch waren auch gut 40 Prozent aller weiblichen 15-Jährigen schon in Kontakt mit Pornos. Verbote seien nur begrenzt wirksam und sinnvoll. Die größten Chancen für eine gelingende Aufklärung birgt laut Walliser eine vertrauensvolle Beziehung und das persönliche Gespräch zwischen Eltern und Kindern.
Sexualität fällt nicht in den Schoß
Überhaupt habe Prävention viel mit Bindung zu tun. Kinder, die angenommen und geborgen sind, die Urvertrauen und gute Vorbilder haben, können auch eher mit Irritationen umgehen, die durch eine Sexualisierung und Mediatisierung unseres Alltags hervorgerufen werden. Dabei falle uns Sexualität nicht in den Schoß. „Sie muss gelernt werden“, erklärt die Sexualpädagogin. Bonding, Babymassage, Babyschwimmen, Kuscheln, Reinlichkeitserziehung, Rollenspiele und vieles mehr fällt in die Kategorie „sexuelle Sozialisation“. Auch das Vorbild der Eltern, was die Einstellung zu Körperlichkeit oder den Austausch von Zärtlichkeit anbelangt, beeinflusst die psychosoziale Entwicklung von Kindern. In der Beziehung ist gegenseitiger Respekt gefragt – und dies sowohl on- als auch offline.
Sexualaufklärung auch Männersache
„Keinesfalls sollten wir die Sexualaufklärung unserer Kinder dem Smartphone überlassen“, betont Walliser. Die Eltern seien auch in punkto Sexualaufklärung primäre Sozialisationspersonen, würden sie doch ihre Kinder am besten kennen. Eine wichtige Rolle komme den Vätern zu, vor allem was die Sexualerziehung ihrer Söhne anbelangt. Der Auftrag der Schule sei ein ergänzender, auch wenn „viele Eltern verunsichert sind und darauf hoffen, dass die Schule nachholt, was sie selbst verpasst haben“.
Das erste Mal – tendenziell später
Zum Schluss noch ein paar Zahlen, die Eltern hoffnungsvoll in die pubertären, medial überfluteten Gebirgstäler ihres Nachwuchses blicken lassen: Beim ersten Mal ist unser Nachwuchs heute weit älter als gemeinhin angenommen, Mädchen sind im Durchschnitt 17,2 Jahre, Buben 17,6 Jahre alt. Tendenziell warten Jugendliche wieder länger, bevor sie das erste Mal Liebe machen. Und: Treue, Zärtlichkeit und Freundschaft stehen bei den Kids höher im Kurs denn je. Auch die gute alte „Bravo“ wird nach wie vor von über der Hälfte aller Jugendlichen gelesen – was immer dies über die qualitative Entwicklung in Sachen Sexualaufklärung aussagt, es wirkt zumindest auf mich angesichts einer scheinbar grenzenlosen (Medien-)Welt ziemlich beruhigend . . .
Autorin: Christine Flatz-Posch
Literaturtipps: „Mein erstes Aufklärungsbuch“ (Dagmar Geisler), „Fit for Love“ (Anya Omah), „Was ist los mit meinem Körper“ (Dr. med. Elisabeth Raith-Paula), „Mein Körper gehört mir“
Aufklärungsseiten im Internet: z. B. www.ciao.ch; www.klicksafe.de
Die Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Kooperation mit dem ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt.
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