Keine gute alte Zeit
Rethicus-Gesellschaft und Vorarlberger Kinderdorf präsentierten wichtiges Stück Landesgeschichte.
Sehr persönlich gestaltete Dr. Christoph Hackspiel, Geschäftsführer des Vorarlberger Kinderdorfs, seine Eröffnungsrede zur Präsentation des Buches „Kindheit, Jugend und Familie in Vorarlberg 1861 bis 1938“ im Kuppelsaal der Landesbibliothek. Auch durch seine Kindheit geisterte das „Schreckgespenst Jagdberg“: „Wenn du nicht brav bist, wenn du die Regeln nicht befolgst, dann bist du hoffnungslos verloren.“ Generationen von Vorarlberger Kindern und Jugendlichen wurde mit dem Jagdberg gedroht – als saloppe Warnung oder konkrete Beschwörung der ultimativen Strafe, der „Hölle auf Erden schlechthin“.
„Ein Berg, auf dem Kinder gejagt werden“
„In meiner Vorstellung war es ein Berg, auf den die Kinder gebracht und dann gejagt wurden“, erinnert sich Christoph Hackspiel. Ein unvorstellbar grauenvoller Ort jedenfalls – und dennoch war der Tatbestand, dass es diesen Ort gab, an dem Kindern Gewalt angetan wurde, gesellschaftlicher Konsens. „Die Geschichte des Jagdbergs kann niemals ohne die Einbeziehung des gesellschaftlichen Umfelds, ohne die sozialpolitischen Rahmenbedingungen verstanden werden.“ Die Schrift bringe „wenig Licht und viel Schatten" zutage und sei ein Erbe für die Zukunft. „Auch heute gilt es, sehr aufmerksam zu sein. Wir dürfen nicht innehalten, Familien und Kinder aus dem Kreislauf der Gewalt herauszuholen.“
„Und bist du nicht willig, so spürst du Gewalt.“
Jahrhundertelang waren Demütigungen und die Anwendung körperlicher und seelischer Gewalt im Umgang mit Kindern Alltag. Rheticus-Obmann Albert Ruetz verwies in seiner Rede auf das Wort „educare“, das ursprünglich „in die Freiheit führen, zu einem selbstbewussten Menschen machen“ bedeutete. Über Generationen hinweg sei dies nicht passiert: „Erziehen hatte nichts mit Kindern zu tun. Das Ganze war ein ideologisch geführter Kulturkampf.“ Ein Kampf, in dem Minderjährige als erste unter die Räder kamen. „Unglaublich und beängstigend, abenteuerlich und spannend“ sei es, was Prof. Gerhard Wanner in seiner Aufarbeitung zeigt.
Völlig neue Ergebnisse
Wanner räumt in der aktuellen Rheticus-Schrift mit dem Bild der „heilen Familie“ gehörig auf und gibt erstmals umfassende Einblicke in die oftmals zutiefst erschütternde Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Familien in Vorarlberg ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch für den Historiker selbst brachten seine Recherchen völlig neue Ergebnisse zu Tage. „Ich war erschüttert, manchmal zu Tränen gerührt, und bin tief in die Vorarlberger Gefühlswelt und Mentalität eingedrungen. Heute sehe ich die Vorarlberger Landesgeschichte in einem neuen Licht.“
Keine gute alte Zeit
Im Spiegel der damaligen Presse – des konservativen Vorarlberger Volksblatts sowie der neu entstandenen Vorarlberger Wacht und des Vorarlberger Volksfreunds – zeigt Prof. Wanner drastisch die Auseinandersetzung zwischen tiefstem Konservativismus und zaghaften Strömungen der Aufklärung. Weit entfernt von der „guten alten Zeit“ wuchsen Kinder in einer Gesellschaft auf, in der gestraft, geschlagen und geprügelt wurde. Wahre „Prügelorgien“ hätten an Schulen stattgefunden – exekutiert und befürwortet auch von Kaplänen, Geistlichen, Klosterschwestern und Eltern.
Mutterliebe?
Ende des 19. Jahrhunderts sind in Vorarlberg ein Viertel der Kinder im ersten Lebensjahr gestorben, fast jedes zweite Kind erlebte seinen 10. Geburtstag nicht. Es grassierten Kinderkrankheiten und Seuchen, die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 37 Jahren. Familien mit 17 Kindern waren keine Seltenheit und auch sonst mussten Frauen in Fabrik, Landwirtschaft und Haushalt Schwerstarbeit leisten. „Immer wieder habe ich im Verlauf der Arbeit gefragt, ob es damals Mutterliebe gegeben haben kann – und ich habe nach wie vor keine schlüssige Antwort.“
„Kinder haben überall geraucht“
Für Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe blieb jedenfalls kaum oder keine Zeit – stattdessen kamen Kinder schon früh in den Genuss von Nikotin und Alkohol. „Im Alter von 9, 10 Jahren haben Kinder überall Pfeife geraucht. Auf Kinderfesten wurde selbstverständlich Wein und Bier an die Kinder ausgeschenkt." Selbstverständlich wurden Kinder auch zur Arbeit herangezogen: Ein Teil der häuslichen und bäuerlichen Kinderarbeit verlagerte sich in die neu entstandenen Fabriken, vor allem die Textilfabriken – die „Maschinenkinder“ waren beliebt, arbeiteten sie doch zu niedrigsten Löhnen.
Feindbilder Liberalismus und Sozialdemokratie
Im ideologischen Kampf zwischen Konservativen und Liberalen zogen letztere den Kürzeren. Der Liberalismus wurde als „Todsünde“ und „gefährlicher Irrtum“ angefeindet, die Sozialdemokratie als „abscheuliche Verkommenheit" und „sittliche Verderbtheit", die katholische Religion als „einzig und alleinige Macht“. Dennoch versuchten beide Gruppierungen Kinder und Jugendliche für ihre Zwecke und den Machtzuwachs ihrer Parteien und Bewegungen vor den Karren zu spannen.
Als „Kinderschreck“ im Landesgedächtnis verankert
Um die pädagogische Praxis im bekanntesten Vorarlberger Erziehungsheim – dem Jagdberg – ging es im Vortrag von Dipl.-Päd. Johannes Spies. Der junge Historiker hat für die jüngste Rheticus-Publikation die Geschichte des Kinderrettungsvereins – der ersten Vorarlberger Kinder- und Jugendwohlfahrtseinrichtung – nachgezeichnet, unter dessen Leitung auch das Heim am Jagdberg aufgebaut wurde. Der extrem engmaschige und straffe Tagesablauf am Jagdberg war einer autoritären Hausordnung untergeordnet, die u. a. mit Nahrungsentzug und Freizeit-Verbot durchgesetzt wurde. Spies führte auch vor Augen, wie abwertend und negativ das damalige Kinderbild am Jagdberg war: Kinder wurden als minderwertig, gefährlich, bösartig und abstoßend gesehen.
Die im Auftrag des Vorarlberger Kinderdorfs erstellte Publikation soll letztlich auch all jenen Mut machen, die in einer hochdifferenzierten Welt entschieden für eine kinderfreundliche Gesellschaft eintreten.
Wunderbar und berührend musikalisch begleitet wurde der hochspannende Abend von Annabelle Bösch und Julia Drexel. Aufmerksam bewirtet wurden die Gäste vom Cafélino-Team des Sozialpädagogischen Internats.
Das Buch kann zum Preis von 15 Euro im Vorarlberger Kinderdorf bestellt werden: Jetzt bestellen!