Laut Kinder- und Jugendärztin Sonja Gobara keine Seltenheit: Unter Dreijährige, die bis zu acht Stunden lang täglich vor dem Tablet oder Smartphone „geparkt“ werden.
Digitale Welten als Herausforderung für die kindliche Entwicklung
Eine aktuelle Studie, durchgeführt im Rahmen der Mental Health Days 2025 in Wien, verdeutlicht den Handlungsbedarf. Über 14.500 Schüler:innen und Lehrlinge wurden zu ihrem Medienverhalten, psychischen Wohlbefinden und ihrer Lebensrealität befragt. Die Ergebnisse sind alarmierend: 68 Prozent berichteten, in den letzten zwei Wochen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit empfunden zu haben. 28 Prozent hatten Gedanken an Selbstverletzung oder Suizid. Soziale Netzwerke wie Instagram oder TikTok wirken sich dabei negativ auf die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen aus. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt in einem Bericht vor dem erheblichen Gefährdungs- und Suchtpotenzial sozialer Medien für Kinder und Jugendliche und zeigt die Notwendigkeit gesünderer Online-Gewohnheiten auf. Für Aufsehen sorgt zudem eine Sonderauswertung der PISA-Studie. Nur 44 Prozent der Teenager in Österreich seien in der Lage, Fake News im Internet zu erkennen. Damit liegt Österreich im Vergleich mit anderen OECD-Staaten am Ende der Statistik.
Immer mehr Kinder mit Pseudoautismus
Doch nicht nur Jugendliche sind betroffen. Der problematische Einfluss digitaler Medien beginnt bereits in frühester Kindheit. Unter Dreijährige, die bis zu acht Stunden lang täglich vor dem Tablet oder Smartphone „geparkt“ werden, seien keine Seltenheit, berichtet die Kinder- und Jugendfachärztin Sonja Gobara, die Österreichs einziges Autismuszentrum in St. Pölten leitet. In der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs erläuterte sie die tiefgreifenden Folgen: Entwicklungsverzögerungen in Sprache, Kommunikation und Sozialverhalten nehmen zu. Kinder, die dauerhaft durch Medien ruhiggestellt werden, zeigen oft Verhaltensauffälligkeiten, die an Autismus erinnern – ein Phänomen, das als „Pseudoautismus“ oder „Virtueller Autismus“ bezeichnet wird. „Diese Kinder haben kaum Blickkontakt, ganz wenig Motivation, mit anderen in Kontakt zu treten und eine extreme Sprach-Entwicklungsverzögerung“, so Gobara.
Wenn Eltern hinterm Bildschirm abtauchen
Die Psychologin Natalie Gmeiner vom Vorarlberger Kinderdorf weist darauf hin, dass sich viele Eltern der Risiken nicht bewusst seien. Auch das eigene Medienverhalten der Eltern spielt eine entscheidende Rolle. „Für Babys und Kleinkinder ist es sehr verstörend, wenn ihre Bezugspersonen in ihrer Gegenwart dauerhaft hinter einem Bildschirm verschwinden“, erklärt Gmeiner. „Es macht sie verzweifelt, wütend, ängstigt sie. Kommt das häufig vor und wird nicht korrigierend eingegriffen, gibt das Kind auf und zieht sich in sich selbst zurück. Wenn alle Erwachsenen in die digitale Welt vertieft sind, lernt das kleine Kind: Das da im Handy ist wichtig, ich bin es nicht.“
Kinder wünschen sich auch heute die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, eine Gutenacht-Geschichte, liebevolle Nähe.
Digitalisierte Alltags- und Parallelwelt
Die Bindungsexpertin nennt weitere Beispiele, wie sich die Digitalisierung in der kindlichen Lebenswelt manifestiert. So werden beispielsweise Handy-Halter am Kinderwagen oder ins Töpfchen integrierte Tablet-Halterungen als „intelligente Alltagshelfer“ vermarktet. Auch eine aktuelle Maßnahme stellt Gmeiner zur Diskussion: „50 Cent mehr für jedes nicht online gekaufte Busticket zwingt Kinder, ein Smartphone dabei zu haben.“ Kritisch beurteilt sie zudem das sogenannte „Sharenting“. „Davon spricht man, wenn Eltern sich und ihre Kinder auf Social Media inszenieren. Die Kinder erleben sich dann in auf sie zugeschnittenen Rollen, wie in einer Parallelwelt, was es ihnen schwer macht, sich als eigenständige Personen zu entwickeln.“
Aufruf zu mehr Medienkompetenz und Aufklärung
Fachleute plädieren daher für mehr Gespräch, Aufklärung und umfassende Maßnahmen zur Erlangung von Sprach- und Medienkompetenz sowie eines reflektierten Umgangs mit dem Internet – bei Kindern als auch bei Eltern. Ziel ist es, eine bewusste, kontrollierte Mediennutzung zu fördern und Alternativen zur digitalen Unterhaltung aufzuzeigen. „Kinder wünschen sich eigentlich das Gleiche wie früher: Aufmerksamkeit und liebevolle Nähe der Eltern, eine Gutenachtgeschichte, draußen spielen, mit Freunden Zeit verbringen“, betont Gobara. Denn Kinder lernen Sprache und Schlüsselkompetenzen in der Beziehung und sozialen Interaktion. Kritisch beurteilt die Expertin die flächendeckende Verteilung von Tablets an Schulen: „Die Technik erlernen Kinder sehr schnell. Der Schwerpunkt muss aber auf der Nutzung und Kompetenz liegen.“ Auch Natalie Gmeiner sieht die Bildungspolitik in der Pflicht: „Alle Kinder bekommen so ein digitales Endgerät über die Schule und die Eltern müssen sich um die Handhabung und Grenzsetzung kümmern. Da fühlen sich viele alleingelassen.“
Online und offline im Einklang
Ein bewusster, verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Medien ist essenziell, damit Kinder gesund aufwachsen. Es gilt, junge Menschen in der virtuellen Welt nicht allein zu lassen. Politik und Gesellschaft sind gefordert, Schritte hin zu mehr Aufklärung, Schulung und Prävention zu setzen und verstärkt Investitionen in die psychische Gesundheitsvorsorge zu tätigen. Nur so können Kinder und Jugendliche das Leben online und offline besser in Einklang bringen und auch von Chancen der Digitalisierung profitieren. Seitens des Vorarlberger Kinderdorfs wird darüber hinaus für die Schaffung von Frei- und Bewegungsräumen für Kinder plädiert, die zu Aktivitäten ohne Smartphone ermutigen.
Tipps für Eltern
- Keine digitalen Medien für Kinder unter drei Jahren
- Smartphone so spät wie möglich
- Klare Regeln für die Nutzung sowie bildschirmfreie Zonen festlegen
- Jugendschutzfunktionen aktivieren und erklären, warum Datenschutz wichtig ist
- Im Gespräch bleiben, über Cybermobbing und Fake-News reden und einen kritischen Umgang mit Online-Inhalten fördern
- Offline fördern und Raum für Aktivitäten schaffen
- Vorbild sein durch bewussten Umgang mit dem Handy
Quellen:
Mental Health Studie 2024: www.mentalhealthdays.eu
Bericht der WHO zur Mediennutzung von Jugendlichen: Jugendliche, Bildschirme und psychische Gesundheit
Vorarlberger Kinderdorf: Vortrag von Sonja Gobara in der Reihe „Wertvolle Kinder“: Pseudo-Autismus bei Kindern im Vormarsch — Vorarlberger Kinderdorf
PISA-Studie – Nur 44 Prozent der Teenager erkennen Falschnachrichten